Oktober 2010

Kindermedizin: Erfolgreich, anerkannt - und trotzdem gefährdet

Stiftung Kindergesundheit informiert über Leistungen und aktuelle Sorgen von Kinder- und Jugendärzten heute

Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte haben mit den Eltern eines gemeinsam: Die Liebe zu den Kindern. Sie möchten die Kinder vor Gefahren schützen und ihre Krankheiten, wenn möglich, wieder heilen. Die Fortschritte, die die Kinderheilkunde bei diesem Bemühen erzielt hat, sind unübersehbar, stellt die Stiftung Kindergesundheit erfreut fest. Dank Impfungen, Ernährungsberatung, medizinischer und sozialer Betreuung und Vorsorge konnten viele Krankheiten, die die Gesundheit oder sogar das Leben von Kindern bedrohten, zurückgedrängt oder erfolgreich bekämpft werden.

 

So wurde die Säuglingssterblichkeit auf früher unvorstellbar niedrige Werte gedrückt. Sie ging allein in den letzten 20 Jahren um die Hälfte zurück: Starben noch 1990 sieben von 1.000 Babys in den ersten zwölf Monaten ihres Lebens, waren es 2008 nur noch 3,5 Verstorbene auf tausend Lebendgeburten. (Wohlgemerkt: Das sind 3,5 Promille, nicht Prozent!).

 

Dass diese  Bemühungen der Kinder- und Jugendärzte auch von den Eltern ihrer kleinen Patienten in hohem Maße anerkannt werden, wurde jetzt auch auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) deutlich, die Ende September in Potsdam stattgefunden hat. So berichtete Raimund Schmid, Geschäftsführer des "Kindernetzwerks": "Nach Umfragen bei den Mitgliedern von 53 Eltern-Selbsthilfeorganisationen sagten 100 Prozent der Eltern, dass Kinder- und Jugendmedizin für sie als eigenständige Fachrichtung unverzichtbar sei. Lediglich 13 Prozent meinten, dass auch ‚Erwachsenenärzte’ die Rolle eines Kinder- und Jugendarztes gleichwertig übernehmen können".

 

Ein vergleichbares Ergebnis erbrachte bereits zuvor eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ und der Krankenkasse DAK: Der wichtigste Ansprechpartner, wenn es um die Gesundheit geht, ist für Eltern in Deutschland der Kinder- und Jugendarzt. Die Befragung von 1.008 Personen durch das Institut Forsa ergab: Acht von zehn Eltern wenden sich selbstverständlich an eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt, wenn ihr Kind krank ist, nur 13 Prozent ziehen den Hausarzt vor. 77 Prozent kontaktieren den Kinder- und Jugendarzt, wenn sie Fragen und Probleme haben, dann erst kommen Bekannte, Verwandte und die Medien. Und das wichtigste Ergebnis: 95 Prozent der Eltern sind mit ihrem Kinderarzt "sehr zufrieden" oder "zufrieden".

 

Auch Bundesgesundheitsminister Philip Rösler (FDP), selbst Vater von Zwillingen im Alter von zwei Jahren, plädierte in Potsdam dafür, Kinder nach Möglichkeit von einem Facharzt oder –ärztin für Kinder- und Jugendmedizin betreuen zu lassen. Er betonte in seinem Grußwort an die in Potsdam zum DGKJ-Kongress versammelten über 3.000 Kinderärz

  • Pädiater sind aufgrund ihrer Qualifikation in keiner Weise zu ersetzen.
  • Die Versorgung von Kindern könne auch in Zukunft nicht primär von Allgemeinmedizinern wahrgenommen werden.
  • Pädiatrische Spezialambulanzen an Kliniken, die trotz gesetzlicher Verankerung derzeit eher schleppend errichtet werden, sollten erheblich gestärkt werden.

Getrübter Blick in die Zukunft

Angesichts dieses großen Vertrauens in das Können der Pädiater in Deutschland ist es vielleicht verwunderlich, dass viele Kinderärzte sich große Sorgen machen um ihre eigene Existenz und um den künftigen Bestand ihrer Fachdisziplin. Doch das ist tatsächlich der Fall, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. So erklärte der Potsdamer Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Michael Radke, Tagungspräsident des DGKJ-Kongresses: "Es ist keineswegs sichergestellt, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland in zehn Jahren medizinisch genauso gut betreut werden können, wie das derzeit noch der Fall ist".

Sorgen bereiten den Pädiatern vor allem folgende Gründe:

  • Geburtenrückgang.
    Nach Angaben des brandenburgischen Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) auf dem DGKJ-Kongress musste in Brandenburg aufgrund des Geburtenrückganges in den vergangenen 20 Jahren bereits jede zweite Schule geschlossen werden. In manchen Teilen des Landes sind keine niedergelassenen Kinderärzte mehr zu finden.
  • Wirtschaftliche Zwänge.
    Professor Radke: "Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens schlägt immer mehr auch auf die Kinderheilkunde durch. Von einem ausreichenden Personalschlüssel im Pflegedienst der Krankenhäuser, der die Besonderheiten kranker Kinder berücksichtigen würde, sind viele Kinderkliniken Deutschlands weit entfernt".
  • Drohender Mangel an Kinderärzten.
    Das Durchschnittsalter der jetzt aktiven Kinder- und Jugendärzte liegt relativ hoch, so dass schon bald viele von ihnen aufhören werden. Es fehlt aber an Weiterbildungsplätzen in Kliniken und Praxen und so sinkt die Zahl der neu ausgebildeten Kinder- und Jugendärzte. Professor  Radke: "Die qualitätsgerechte medizinische Versorgung kranker Kinder und Jugendlicher in so genannten strukturschwachen Regionen ist bereits heute nur unter Schwierigkeiten zu organisieren".
  • Zersplitterung.
    Durch die Spezialisierung auf einzelne, organbezogene Teilgebiete droht das Fach Pädiatrie zerstückelt zu werden.

Das umfangreiche Programm des Kongresses spiegelte die enorme Zunahme des Wissens um die Ursachen und Entstehungswege von Krankheiten des Kindes- und Jugendalters in den letzten Jahren wieder. Die Themenpalette reichte von A wie ADHS, Alkoholvergiftungen oder angeborene Herzfehler bis zu Z wie zerebrale Infektionen, Zöliakie oder Zwangserkrankungen. Zu den besonderen Schwerpunkten gehörten die neuen Therapieansätze bei chronischen Darmentzündungen, Pro- und Präbiotika in der Neonatologie und das bedrohlich wachsende Problem von Übergewicht und Fettsucht bei Kindern und Jugendlichen.

 

 

Stiftung Kindergesundheit ehrt ungarischen Wissenschaftler

 

Prof. B. Koletzko, Prof. E. Czeizel

 

Im Rahmen des Kongresses verlieh die Stiftung Kindergesundheit den renommierten "Meinhard von Pfaundler-Präventionspreis 2010" an Professor Dr. med. Endre Czeizel aus Budapest. Der ungarische Humangenetiker erhielt die Auszeichnung in Anerkennung seiner großen Verdienste um die Vorbeugung angeborener Fehlbildungen durch eine verbesserte Vitaminversorgung bei Schwangeren.

Professor Czeizel führte Anfang der 1990er Jahre die weltweit erste Studie zur Primärprävention angeborener Fehlbildungen von Rückenmark und Gehirn des Babys durch Vitamine und Folsäure bei 5.502 Schwangeren durch. Er konnte zeigen, dass die tägliche Gabe eines Multivitaminpräparates kombiniert mit dem B-Vitamin Folsäure schon vor der Befruchtung und weitere Gaben im ersten Schwangerschaftsdrittel die Entstehung von so genannten Neuralrohrdefekten wie "offener Rücken" (Spina bifida) weitgehend verhinderte. Der Einsatz von Folsäure gehört heute weltweit zu den wichtigsten Vorbeugungsmassnahmen bei Frauen mit Kinderwunsch und bei Schwangeren.

Professor Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit würdigte die bahnbrechenden Leistungen des Preisträgers: "Professor Dr. Endre Czeizel hat mit seinen systematischen Studien zur Vorbeugung angeborener Fehlbildungen einen großen Beitrag zur Förderung der Kindergesundheit weltweit geleistet".

 

Euthanasie – das dunkle Kapitel der deutschen Pädiatrie

Als erste medizinische Fachgesellschaft in Deutschland hat sich die DGKJ der Verantwortung der Kinderheilkunde bei den Medizinverbrechen während der nationalsozialistischen Herrschaft gestellt. Um die Erinnerung an die Schicksale der vertriebenen, verfolgten und ermordeten jüdischen Kinderärzte hat die DGKJ bereits 1998 eine öffentliche Gedenkfeier veranstaltet. Auf dem diesjährigen Kongress wurde an die Kinder erinnert, die während der so genannten Kinder-Euthanasie zum Opfer der Medizin wurden.

Mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Opfer der verschiedenen Programme zur Vernichtung so genannten "lebensunwerten Lebens". Viele von ihnen wurden von Kinderärzten an staatliche Behörden gemeldet, begutachtet, für Experimente herangezogen und getötet.

 

Während einer ergreifenden Gedenkstunde gedachten rund 800 Kongressteilnehmer und geladene Gäste den Opfern der Gasmordaktion „T4“ und der systematischen Tötung durch Hungerkost in Anstalten, Heimen und Krankenhäusern. Diese medizinischen Verbrechen wurden auch von Kinderärzten begangen. Die Fachgesellschaft DGKJ hat sich deshalb zur kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte und zur Erinnerung an die Opfer verpflichtet.

Die Selbstverpflichtung wurde von Professor Dr. Fred Zepp, dem amtierenden Präsidenten der DGKJ verlesen: "Wir verneigen uns heute in Demut vor den Opfern und ihre Angehörigen und bitten im Namen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin um Verzeihung für das Leid, das Kinderärztinnen und Kinderärzte ihnen in dieser Zeit zugefügt haben".