August 2008

Die dicken Kinder von Deutschland

Appell der Stiftung Kindergesundheit: Besser schon die Kleinen vor Übergewicht schützen als später die Großen auf Diät setzen zu müssen.

 

Das Übergewicht bei Kindern hat sich zu einem ernsthaften Problem entwickelt. Laut der aktuellen Studie KiGGS des Robert-Koch-Instituts sind 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen von drei bis 17 Jahren übergewichtig, 6,3 Prozent sind sogar adipös, also regelrecht fettsüchtig. Untersuchungen zeigen, dass der Grundstein fürs Übergewicht bereits im Kindergartenalter gelegt wird, denn bereits unter den Fünf- bis Sechsjährigen sind zehn bis 15 Prozent zu dick und vier bis 6 Prozent adipös. Deshalb kommt der möglichst frühzeitigen Vorbeugung eine entscheidende Bedeutung zu, betont die in München beheimatete Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme.

 

„Unser Ziel muss sein, das drohende Übergewicht durch geeignete Interventionen schon im Kleinkindesalter an der Entstehung zu hindern“, so der Münchner Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Stoffwechselspezialist am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München, Vorsitzender der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Vorsitzender der gemeinnützigen Stiftung Kindergesundheit. „Ein besonders hoffnungsvoller Ansatz sind Programme in Kitas und Kindergärten: In diesem Alter sind Kinder noch sehr gut zu motivieren, ihre  Gewohnheiten können noch vergleichsweise leicht geändert werden“.

 

Wie gefährlich ist Übergewicht wirklich?

Ein Übergewicht im Kindesalter geht im späteren Alter mit einem großen Gesundheitsrisiko einher. Dicke Kinder laufen Gefahr, übergewichtige Erwachsene zu werden. Sie sind anfälliger gegen Infektionen, haben Skelettschäden oder eine schlechte Haltung. Ihr Risiko für hohen Blutdruck, hohe Cholesterinwerte, koronare Herzerkrankungen und Gicht ist erhöht. Die Liste der Krankheiten, deren Risiko durch Übergewicht erhöht wird, ist aber noch länger: Fettleber und Gallensteine gehören ebenso dazu wie Gelenkprobleme oder die Entstehung eines Diabetes des Typs II, des so genannten Altersdiabetes.

 

Überflüssige Pfunde verkürzen auch die Lebenserwartung: In einer großen dänischen Studie wurden die späteren Erkrankungsraten von 276.835 Schulkindern untersucht. Die Zusammenhänge sind eindeutig: Hatte ein siebenjähriger Junge zwei Kilo Körpergewicht zu viel, lag sein Risiko, als Erwachsener an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken, um sieben Prozent höher als bei einem normalgewichtigen Kind. Fünf Kilo zu viel im Alter von 13 Jahren steigerten die Gefahr für Herz und Kreislauf um 15 Prozent.

 

Warum Kinder zu dick werden

„Die wichtigsten Ursachen für die Entstehung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen sind ganz eindeutig die zunehmend sitzende Lebensweise und die veränderten Essgewohnheiten. Rumsitzen, süße Getränke und Fastfood machen Kinder dick!“, so Professor Koletzko.

Nicht zu vernachlässigen seien jedoch auch weitere Faktoren: Die familiäre Veranlagung spielt eine im wahrsten Sinne des Wortes gewichtige Rolle. Wenn beide Elternteile übergewichtig sind, besteht eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass auch ihre Kinder übergewichtig werden.

„Auch psychosoziale und sozioökonomische Faktoren sind an der Entstehung des Problems im entscheidenden Maße beteiligt“, betont der Münchner Kinder- und Jugendarzt. „So sind Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund häufiger übergewichtig als Kinder aus deutschen Familien. Aber auch Kinder aus sozial benachteiligten deutschen Familien haben ein höheres Risiko, dick zu werden“.

 

Diäten helfen nur selten nachhaltig

Auch bei Kindern und Heranwachsenden lassen sich Übergewicht und Adipositas mit einer restriktiven, kalorienbegrenzten Diät beeinflussen. Doch leider meist nur für kurze Zeit. Ansonsten gelten auch für Kinder und Teeanger uneingeschränkt die Zeilen von Wilhelm Busch:

„Wieder schwinden 14 Tage, wieder sitzt er auf der Waage, autsch, nun ist ja offenbar, alles wieder wie es war!“

Professor Koletzko: „Unter den heutigen Lebensumständen fällt es Kindern und Jugendlichen, die bereits übergewichtig sind, ausgesprochen schwer, Gewicht zu verlieren und noch schwerer, das erreichte niedrigere Gewicht zu halten. Deshalb gilt gerade beim Problem Übergewicht die Zielsetzung der Stiftung Kindergesundheit: Besser vorbeugen als nachsorgen. Statt Übergewicht zu behandeln, sollte versucht werden, seine Entstehung von vornherein zu verhindern“.

 

Vier wichtige Regeln

Die wichtigsten Präventionsempfehlungen der Stiftung Kindergesundheit lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

Erstens:

Wer später ein „guter Esser“ wird, entscheidet sich bereits in den ersten Lebensmonaten. Kinder, die als Säuglinge überfüttert werden, werden auch später mehr essen als sie brauchen. Deshalb sollte schon im Säuglingsalter eine rasche und zu frühe Gewichtszunahme vermieden werden. Dieses Ziel wird mit Hilfe des Stillens am ehesten erreicht. Bei der Flaschenfütterung sollten Eltern auf die von den Herstellern empfohlenen Mengenangaben achten und eine Überfütterung aus Flasche oder Beikost vermeiden.

Zweitens:

Regelmäßige körperliche Aktivität, zu Hause ebenso wie in der Kindertagesstätte. Kinder müssen, so oft es geht, hinaus an die frische Luft zum Toben, Rennen, Klettern.

Drittens:

Eine strikte Begrenzung der Zeit vor dem Bildschirm, also vor dem Fernsehgerät, dem Computer oder anderen elektronischen Medien. Kinder unter drei Jahren sollten überhaupt nicht fernsehen, danach sollten sie bis zur Einschulung maximal 45 Minuten pro Tag vor dem Bildschirm verbringen.

Viertens:

Kinder brauchen mehr Obst und Gemüse, als sie heute verzehren und sie sollten weniger energiedichte Speisen, große Portionen, Softdrinks und Fastfood zu sich nehmen. Sie brauchen auch reichlich zu trinken, allerdings keine gesüßten Getränke oder süße Säfte, sondern Wasser, Tee oder verdünnte Säfte.

 

An der Entstehung von Übergewicht sind verschiedene und komplexe Ursachen beteiligt, zu ihrer Bekämpfung gibt es deshalb keine einfachen Lösungen. Die Grundlage der Behandlung bei Kindern und Jugendlichen sind ambulante Programme, die eine nachhaltige Veränderung des Verhaltens bewirken. Sie müssen auf den Erkenntnissen der Vorschulpädagogik und Kommunikationswissenschaft basieren. Ein solches Programm ist das von der Stiftung Kindergesundheit gemeinsam mit dem Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und weiteren Partnern entwickelte und vom Bayerischen Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz (StMUGV) geförderte, breitenwirksame Präventionsprojekt TigerKids. Es richtet sich an Kindertageseinrichtungen. Ziel ist, den Anstieg von Übergewicht bereits im Kindergartenalter durch gesunde Ernährung und Bewegung aufzuhalten.

 

Mehr Obst, weniger Süßes

Das Programm soll Kinder im Vorschulalter durch eine gesunde Lebensweise fit machen und Übergewicht verhindern. Auch die Eltern werden angeregt, ihren Kindern eine ausgewogene Pausenverpflegung in den Kindergarten bzw. in die Kindertagesstätte mitzugeben. Es wird zu Hause und in der Kindertagesstätte oder im Kindergarten auf Rituale beim Essen und eine gemütliche Atmosphäre bei Tisch geachtet.

Das Programm hat sich in seiner Erprobungsphase bereits bewährt: Die Mehrzahl der daran beteiligten Kinder isst täglich zweimal Obst und bewegt sich mehr als eine Stunde täglich. Zudem trinken die Kinder seltener gezuckerte Getränke und greifen häufiger zu Wasser.

Zurzeit sind bereits Kinder in rund 3.000 Kindertagesstätten dabei, sich in „TigerKids“ zu verwandeln. Damit werden annähernd 100.000 Familien erreicht. In Zusammenarbeit mit der AOK ist bis 2009 ist eine weitere bundesweite Ausdehnung auf insgesamt 5.000 Kindertagestätten geplant. Mit „TigerKids“ wird damit über regionale Einzelprojekte hinaus erstmals eine substanziell verbesserte Gesundheitsförderung in deutschen Kindertagesstätten flächendeckend etabliert.

 

Die EU-Kommission empfiehlt „TigerKids“ in ihrem „Weißbuch zu Übergewicht, Ernährung und körperlicher Bewegung“ als eines von zwei europäischen Modellprojekten.

 

Gesund essen ohne Schuldgefühle

Ebenfalls unter Mitwirkung der Stiftung Kindergesundheit entstand das Programm „PowerKids“ für Kinder im Schulalter. „Dieses Programm ist keine strickte Diät mit strengen Verboten, keine Reha-Kur für dicke Kinder und auch kein ‚Crash-Kurs’ zum Abnehmen“, betont Professor Koletzko: „PowerKids ist ein zwölfwöchiges verhaltenstherapeutisch orientiertes Trainingsprogramm für übergewichtige Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren. Es soll den Kindern spielerisch helfen, ihr Gewichtsproblem langfristig über eine Änderung ihrer Essgewohnheiten in den Griff zu bekommen. PowerKids kennt keine Strafen, sondern ist ein reines Belohnungssystem, bei dem keine Schuldgefühle entstehen sollen. Es setzt bei den Bedürfnissen der Kinder nach Spiel, Spaß und Selbstbestimmung an.“

Weitere Informationen im Internet unter:

http://www.tigerkids.de

http://www.powerkids.de

 

Dicke Kinder - ein globales Problem

Die Zahl übergewichtiger Kinder hat sich in den letzten 15 Jahren nahezu verdoppelt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht bereits von einer „globalen Epidemie“ der Wohlstandsländer. Von den 77 Millionen Kindern im Alter zwischen sieben und elf Jahren in der Europäischen Union gelten 14 Millionen bereits als übergewichtig, jedes Jahr kommen rund 400.000 hinzu. Weitere drei Millionen Kinder fallen in die Kategorie der Adipösen, also der regelrecht Fettsüchtigen. Die Zunahme in dieser Gruppe beträgt 85.000 pro Jahr.