April 2007

Viel zu früh und leicht geboren - zu klein zum Leben?

Die Stiftung Kindergesundheit informiert über die aktuellen Überlebenschancen bei extrem niedrigem Geburtsgewicht.

 

Schaut man sich frühgeborene Babys an, wie sie mit Schläuchen in der Nase und Elektroden auf der Brust im Brutkasten liegen, wie nackte Vogeljungen, die aus dem Nest gefallen sind, kann man die Zweifel nicht verscheuchen: Aus diesen zerbrechlichen Wesen sollen wirklich richtige Menschen werden, eines Tages? Kann man ein Kind, das mit nur 1.000, 800 oder sogar nur 500 Gramm geboren wird, wirklich so heranpäppeln, dass es überlebt und – genauso wichtig – gesund überlebt?

Die Antwort der in München beheimateten Stiftung Kindergesundheit fällt erfreulich positiv aus: Ja, das ist heute in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich möglich!

 

Der Anteil der Frühgeborenen in Deutschland stagniert in den letzten Jahren zwischen sechs und sieben Prozent. Zu früh geboren heißt, vor der 37. Schwangerschaftswoche das Licht der Welt zu erblicken. Zu früh heißt aber auch, zu schwach und zu klein zu sein: Zu den "Frühchen", wie sie liebevoll bezeichnet werden, zählen die Ärzte alle Kinder, die bei der Geburt weniger als 2.501 Gramm wiegen. Neugeborene unter 1.500 Gramm gelten als sehr kleine Frühgeborene, abgekürzt VLBW (very low birth weight), Babys unter 1.000 Gramm Geburtsgewicht zählen zu den extrem Untergewichtigen (ELBW).

 

Viele Jahrhunderte lang galt der Lehrsatz von Hippokrates, wonach kein Kind vor dem siebten Monat der Schwangerschaft gerettet werden könne. Selbst vor 30 Jahren wurde es fast noch als eine Sensation angesehen, wenn ein ELBW-Baby am Leben blieb. Bis 1974 galt die Beatmung von Kindern unter 1.000 Gramm sogar als "unethisch"!

 

Professor Dr. Volker von Loewenich, ehemaliger Leiter der Neonatologie der Universitätsklinik Frankfurt berichtet in der "Wiener Klinischen Wochenschrift" (2005;9-10:308-310): "Die Sterblichkeit sehr kleiner Frühgeborener war bis in die Mitte der Siebziger Jahre extrem hoch, bei Kindern unter 1.000 Gramm Geburtsgewicht schwankend zwischen 80 und 100 Prozent. Danach kam es fast überall zu einem steilen Anstieg der Überlebensrate. In unserer eigenen Einheit hat sich die Mortalität (= Sterblichkeit) für Kinder unter 1.000 Gramm seit 1997 mit auffallend geringer Streuung bei etwa 22 Prozent eingependelt."

 

 

Meilensteine lebensrettender Maßnahmen

In der Betreuung von Frühgeborenen gab es in den letzten Jahrzehnten mehrere

Meilensteine:

  • Ab 1970 begann der Aufbau von neonatalen Intensivstationen in Deutschland. Es
    wurden für die Frühchen Risikoambulanzen eingerichtet.
  • Ab 1980 praktizierten die Neonatologen die konsequente Beatmung von Frühchen
    unter 1500 Gramm. Als Untersuchungsmaßnahmen kamen der zerebrale
    Ultraschall und die Magnetresonanz zum Einsatz.
  • Ab 1990 wird synthetisches Surfactant zur Beschleunigung der Lungenreifung eingesetzt,
    außerdem gibt es neue Beatmungstechniken. Organisatorisch wurden
    große Perinatalzentren eingerichtet.

 

 

Kann man den Mutterleib ersetzen?

Die auf Neugeborenen spezialisierten Neonatologen haben die schwierige Aufgabe, dem Kind mit medizinischen Mitteln den Mutterleib zu ersetzen, den es zu früh entbehren musste. Die Kinderärzte und die spezialisierten Schwestern auf der Neugeborenen-Intensivstation müssen versuchen, die Arbeit des mütterlichen Organismus zu übernehmen und dabei das Milieu in der Gebärmutter im Brutkasten nachzuahmen, mit all der Wärme, Feuchtigkeit, Infektionsschutz, Hautreizen, Geräuschen und Lichtverhältnissen.

 

Die Erfolge können sich sehen lassen. Die Frage "Wie klein ist zu klein?", mit der sich die Geburtsmedizin seit jeher auseinandersetzen muss, wird, so scheint es, Jahr für Jahr mit niedrigeren Zahlen beantwortet. Vor 50 Jahren starben noch 70 Prozent aller Babys mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm. Von den 30 Prozent Überlebenden trugen 70 Prozent schwere neurologische Schäden davon.

 

Heute liegt die Überlebensrate bei Babys unter 1.500 Gramm in Deutschland bei etwa 84 Prozent. Diese Zahl schwankt allerdings deutlich unter den Bundesländern: Während in Baden-Württemberg 12,9 und in Hamburg 13,7 von Hundert VLBWBabys sterben, sind es in Mecklenburg-Vorpommern 19,0 und in Bremen sogar 19,7.

 

Von den Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 1.000 Gramm überlebte 1973 in der damaligen Bundesrepublik kein einziges das erste Lebensjahr. Heute liegt die Sterblichkeit dieser extrem untergewichtigen Frühchen bei etwa 32 Prozent und schwankt zwischen 25,2 in Baden-Württemberg und 44 Prozent in Niedersachsen.

 

Die statistische Grenze zwischen Leben und Tod hat sich inzwischen bei einer Schwangerschaftsdauer von 24 Wochen und einem Geburtsgewicht von ca. 650 Gramm eingependelt. Von da an überleben 50 Prozent der extrem kleinen Frühchen. Neonatologe Dr. Thomas M. Berger vom Kinderspital Luzern: "Ein Überleben von Frühgeborenen, die vor 20 Jahren noch als kaum lebensfähig eingestuft wurden(Gestationsalter 25 bis 26. Schwangerschaftswoche) ist heute zur Regel geworden."

 

Gerettet aber auch gesund?

Mit dem blanken Überleben ist es allerdings nicht getan. Professor Loewenich: "Es stellt sich unausweichlich die Frage, ob wir auch alles tun sollen, tun dürfen, was wir können. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Rate bleibender Schäden, insbesondere solcher des Zentralnervensystems, umso höher liegt, je unreifer die Überlebenden sind. Derartige Schäden können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen und nicht nur die der betroffenen Kinder selbst, sondern auch die ihrer Familien. Wir können uns daher der Frage nicht entziehen, ob das immer weiter gesteigerte Können uns nicht geradezu dazu verpflichtet, einen Einsatz im Einzelfall kritisch zu hinterfragen."

 

Im Rahmen des EU-Projekts NEOBRAIN (Neonatal Estimation of Brain Damage Risk and Identification of Neuroprotectants), an dem auch die Medizinische Hochschulen Hannover, Innsbruck und die Charité Berlin beteiligt sind, suchen Wissenschaftler nach Wegen, wie man neurologische Schäden frühzeitig erkennen und behandeln kann. Die Größenordnung macht betroffen: Annähernd die Hälfte aller Fälle von Zerebralparesen ("spastische Lähmung") sind auf eine zu frühe Geburt zurückzuführen.

Sie belasten nicht nur die Betroffenen selbst und ihre Eltern, sondern auch die Gesellschaft: EU-weit entstehen durch Frühgeborene pro Jahr 6 bis 7 Milliarden Euro an Behandlungskosten.

 

Zum Glück zeigen aktuelle Untersuchungen, dass die meisten der Winzlinge nicht nur am Leben bleiben, sondern auch ein weitgehend unbeschwertes Leben zu erwarten haben. Neonatologe Dr. Andreas Höck von der Kinderklinik Berlin-Buch: "Die früher geäußerten Befürchtungen, dass der Preis einer gestiegenen Überlebenschance ein gravierender Anstieg von Behinderungen ist, haben sich in großen Langzeitstudien nicht bestätigt. So ist heute die Rate schwerer Behinderungen zum Zeitpunkt der Einschulung bei Kindern unter 1.500 Gramm Geburtsgewicht mit etwa 10 Prozent und mit einem Geburtsgewicht unter 1.000 Gramm mit weniger als 20 Prozent anzusetzen“.

 

Die Entwicklung zum Überleben immer leichterer Frühchen scheint unaufhaltsam. Eine Arbeitsgruppe amerikanischer Neonatologen an der Universität Birmingham im US-Staat Alabama hat bei der Untersuchung der Daten von rund 35 Millionen Neugeborenen festgestellt, dass die Rate an Lebendgeburten an Kindern zwischen 200 und 499 Gramm im Laufe von zehn Jahren um mehr als 100 Prozent zugenommen hat und die Überlebensrate dieser Frühchen, die zur Zeit noch als "pre-viable", d.h. mutmaßlich nicht lebensfähig bezeichnet werden, von 12 Prozent auf 17,4 Prozent angestiegen ist.

 

An der Grenze der Überlebensfähigkeit

Die höheren Überlebenschancen und die verbesserte Überlebensqualität machen den Ärzten allerdings die Entscheidung immer schwerer, wann sie aktiv mit lebensrettenden Maßnahmen beginnen sollten und wann sie auf eine Intervention verzichten dürfen. Die American Academy of Pediatrics beispielsweise schlägt vor, Kinder vor der 23. Schwangerschaftswoche und einem Geburtsgewicht unter 400 Gramm aufgrund der zu erwartenden schlechten Prognose nicht zu beatmen (das so genannte Gestationsalter wird immer vom ersten Tag der letzten Regelblutung gerechnet). Die Schweizer Gesellschaft für Neonatologie empfiehlt, die Betreuung von Frühgeborenen mit einem Gestationsalter von unter 24 Schwangerschaftswochen in der Regel auf Unterstützungsmaßnahmen zu beschränken. Eine britische Ethikkommission unter der Leitung von Professor Margaret Brazier empfahl soeben im November 2006, in der 22. Schwangerschaftswoche geborene Babys nicht wiederzubeleben oder intensiv zu behandeln. In den Niederlanden wird sogar die Euthanasie schwerstbehinderter Neugeborenen diskutiert.

 

Über die Situation hier zu Lande berichtete jüngst Prof. Dr. med. Orsolya Genzel-Boroviczény, Leiterin der Neonatologie der Universitätskinderklinik, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Klinikum der LMU München im "Deutschen Ärzteblatt" (Dtsch. Ärztebl. 2006; 103(28-29): A 1961-4): "Es ist in Deutschland Leitlinienempfehlung, lebenserhaltende Maßnahmen zu ergreifen, wenn für das Kind auch nur eine kleine Überlebenschance besteht. Dies ist vor der vollendeten 23. Gestationswoche selten bis nie der Fall. Aber bereits eine Woche später können Eltern, Geburtshelfer und Neonatologen vor der schwierigen Entscheidung stehen, inwieweit postnatal (= nach der Geburt) Intensivmaßnahmen getroffen werden sollen.“

 

Die Chancen extremer Frühchen hängen auch davon ab, ob die Geburt in einer "normalen" Geburtsklinik stattfindet, oder ob es gelingt, die Mutter (und damit das Baby im Mutterleib) noch rechtzeitig in ein Perinatalzentrum zu transportieren. Dort sind nämlich die Überlebensraten nachweislich deutlich höher. Frau Professor Genzel-Boroviczény: "Nach eigenen Beobachtungen ist das Management von Risikoschwangerschaften in erfahrenen Zentren bereits vor oder in der 23. Woche wesentlich besser und führt zu Schwangerschaftsverlängerungen nicht nur bis zum Beginn der Lebensfähigkeit des Kindes, sondern auch darüber hinaus“.

 

Die Münchner Neonatologin gibt zu bedenken: "Niedrige Mortalitätsraten dürfen nicht zu falscher Euphorie bezüglich des Überlebens an der Grenze der Lebensfähigkeit extrem früh Geborener führen, weil diese Kinder leider in allen Studien ein hohes Morbiditätsrisiko (= Erkrankungsrate) haben. Andererseits ist die Veröffentlichung von niedrigen Mortalitätsraten wichtig, um nicht durch die Publikation hoher Mortalität und Morbidität in einen ärztlichen Nihilismus zu verfallen, der dann wieder schlechte Ergebnisse hervorbringt."

 

 

Wie geht es weiter mit dem "Handvoll Kind"?

Neonatologen und Sozialpädiater der Universitätskinderklinik Ulm untersuchten die Entwicklung von 305 VLBW-Babys, die zwischen 1996 und 1998 in ihrer Klinik versorgt wurden, fünf Jahre nach der Geburt. 188 Datensätze konnten ausgewertet werden. Das Ergebnis:

  • 73 Prozent der Kinder zeigten eine normale neurologische Entwicklung, 16 Prozent hatten milde Auffälligkeiten und 11 Prozent zeigten schwere auffällige Symptome.
  • 84 Prozent wiesen eine normale Motorik im Alltag auf, bei 7 Prozent gab es gravierende motorische Auffälligkeiten.
  • 74 Prozent der Kinder hatten einen Intelligenzquotienten von über 84 IQ.
  • Alles in allem zeigten 63 Prozent aller ehemaligen VLBW-Kinder im Alter von fünf Jahren in allen Bereichen eine unauffällige Entwicklung.

Die Arbeitsgruppe des Neuropädiaters Prof. Dr. med. Hans-Michael Straßburg an der Universitätskinderklinik Würzburg befragte in einer Pilotstudie 37 ehemalige Frühgeborene, darunter zehn ELBW-Babys und 27 VLBW-Kinder der Geburtsjahrgänge 1979 bis 1986 zu ihrem aktuellen Gesundheitszustand. Ergebnis: Im Alter von über 16 Jahren besteht kein signifikanter Unterschied in der subjektiven Einschätzung der Lebensqualität zwischen ehemaligen Frühgeborenen und einer Kontrollgruppe.

Professor Straßburg: "Unsere Probanden zeigten eine überwiegend normale psychische und physische Entwicklung ohne gravierende Probleme in allen Bereichen. Eine signifikante Verminderung der Lebensqualität bei primär nichtbehinderten ehemaligen Frühgeborenen konnten wir nicht feststellen, auch bei bestehenden Entwicklungsstörungen erscheint die Lebensqualität bei den Probanden, die an der Studie teilgenommen haben, relativ günstig. Auch gibt es keine eindeutigen Hinweise für signifikant schlechtere Ergebnisse in verschiedenen Regionen, insbesondere in den neuen Bundesländern. Trotz der sicher bei allen Probanden bestehenden primären Belastungssituation lassen sich in unserem Kollektiv nur relativ selten Hinweise für bleibende physische und psychische Störungen feststellen".

 

"Eines sollte uns allerdings klar sein", betont Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: "Auch wenn die Chancen der Frühchen noch so viel besser geworden sind: Besser wäre es allemal, wenn diese Kinder nicht zu früh, sondern zum normalen Termin, mit einem normalen Geburtsgewicht zur Welt kommen würden. Leider war dieses erklärte Ziel aller Geburtshelfer, Neonatologen und Kinderärzte in den letzten Jahren noch nicht zu erreichen. Das sollte uns Ansporn sein, unsere Bemühungen um die Verbesserung der Prävention weiter zu optimieren."

 

Ein knappes halbe Pfund Leben

Das vorerst leichteste überlebende Baby wurde Ende 2004 in Chicago geboren: Rumaisa Rahman kam mit 243,8 Gramm zur Welt. Bis dahin hielt Madeline Mann mit 280 Gramm Geburtsgewicht den Rekord. Sie ist mittlerweile 19 Jahre alt, eine hervorragende Schülerin, spielt Geige und war in ihrem ganzen Leben nur selten krank.

 

Davor war eine Engländerin jahrzehntelang das leichteste Baby der Welt. Als die kleine Marian im Jahre 1938 (!) zu früh das Licht der Welt erblickte, wog sie 283 Gramm. Ihr Arzt flößte ihr in den ersten beiden Tagen stündlich eine Mischung aus Weinbrand, Wasser und Traubenzucker ein, was der Kleinen offenbar gut bekam. Nach einem Jahr wog Marian bereits über sechs Kilogramm. Gestorben ist sie mit knapp 45 Jahren.

 

Einer der Begründer der deutschen Neonatologie, der finnische Kinderarzt Professor Dr. Arvo Henrik Ylppö kam ebenfalls als Frühgeborenes zur Welt. Im Alter von 98 Jahren sagte er bei einem Mittagessen zu seinem Kollegen Professor Dr. Gerhard Jorch, dem Chefarzt der Uniklinik für Pädiatrie und Neonatologie Magdeburg: "Das schwierigste bei Frühgeborenen ist, vorauszusagen, was aus ihnen wird. Ganz sicher kann man das eigentlich nur, wenn sie in meinem Alter sind." Das ehemalige "Frühchen" Arvo Ylppö wurde 104 Jahre alt.

 

Eltern von Frühchen brauchen mehr Hilfe

Wird ein frühgeborenes Baby aus der Klinik entlassen, brauchen seine meist gestressten und stark verunsicherten Eltern dringend Unterstützung und eine spezielle, oft sehr zeitaufwändige Beratung für den täglichen Umgang mit dem zerbrechlich kleinem Kind. Sie müssen lernen, wie sie ihr Baby pflegenund seine Fähigkeiten fördern können.

Informationen dazu und Anschriften von Selbsthilfegruppen erhält man meist in der Geburtsklinik.

 

Empfehlenswerte Adressen sind:

Bundesverband "Das frühgeborene Kind", Info-Telefon 01805 – 875 877 Dienstag und Donnerstag von 9.00-2.00 Uhr,

Internet: www.fruehgeborene.de

 

Ein weiteres Internetportal für die Angehörigen frühgeborener Kinder ("Frühchen") und für interessierte Berufsgruppen finden Sie unter www.fruehchen-netz.de.