Mai 2008

Viel Bewegung - gesunde und clevere Kinder!

Die Stiftung Kindergesundheit ist besorgt über die zunehmende Trägheit der heranwachsenden Generation.

Kein Zweifel: Kinder sind der Inbegriff von Bewegungsfreude. Sie toben, rennen, tollen, laufen, klettern, balancieren, hüpfen und springen, so oft sie können. So lautet zumindest die klassische Zustandsbeschreibung einer „bewegten“ Kindheit. Leider trifft sie heute immer seltener zu, stellt die Stiftung Kindergesundheit mit großer Besorgnis fest. „Der bestürzende Mangel an körperlicher Aktivität ist mittlerweile zu einem ernsten Problem für die Familien und für die Gesellschaft geworden“, konstatiert Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der in München beheimateten Stiftung. Der Kinder- und Jugendarzt warnt: „Die Welt unserer Kinder wird mehr und mehr zu einer ‚Sitzwelt’!“

 

Bewegung ist für die Entwicklung eines Kindes von fundamentaler Bedeutung: Von ihr gehen entscheidende Impulse aus für alle Wachstumsprozesse des Kindes. Schon Neugeborene haben einen intensiven Bewegungsdrang: In Untersuchungen von reif geborenen gesunden Babys hat man bereits am ersten Lebenstag mehr als 170 und am zehnten Lebenstag mehr als 550 Bewegungen pro Minute gezählt. Bei Kleinkindern bis zum dritten Lebensjahr gibt es pro Stunde mindestens 24 bewegliche Minuten.

 

Danach geht es jedoch kontinuierlich bergab, heißt es in der aktuellen Stellungnahme der Stiftung Kindergesundheit. Eine moderate bis starke Bewegungsaktivität, mindestens eine Stunde pro Tag und das an fünf Tagen in der Woche, wie sie die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihren „Activity Guidelines“ als Richtwert empfiehlt, wird in Deutschland gegenwärtig nur noch von einem Drittel der elf- bis 15-jährigen Jungen und einem Viertel der gleichaltrigen Mädchen erreicht. Jungen aus ökonomisch benachteiligten Familien bewegen sich im Vergleich zu Jungen aus der besser gestellten Wohlstandsgruppe doppelt so häufig zu wenig. Bei Mädchen beträgt dieses Verhältnis sogar drei zu eins zu ungunsten der sozial benachteiligten Familien.

 

Die Folge: In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler um rund zehn Prozent verschlechtert. Ihr Leben spielt sich im Sitzen ab: Nach einer Untersuchung des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Karlsruhe bei über 1000 Grundschülern verbringen die Kinder etwa neun Stunden am Tag im Sitzen, ebenfalls neun Stunden im Liegen, fünf Stunden stehend und lediglich eine Stunde in Bewegung.

 

Was ist schuld an dieser Fitness-Katastrophe?

Bei der Frage nach den Gründen für die alarmierende Entwicklung tauchen sperrige Begriffe auf, die für die gravierenden Veränderungen der Kindheit verantwortlich gemacht werden: „Verhäuslichung“, „Verinselung“ und „Mediatisierung“. Gemeint ist folgendes: Anstatt wie früher drei bis vier Stunden draußen bei Bewegungsspielen zu verbringen, verlassen viele Kinder kaum noch die Wohnung. Das Spielen auf dem Hof oder auf der Straße ist zu gefährlich und wird von den Eltern, etwa aus der berechtigten Angst vor Unfällen, oft gar nicht erlaubt. Der Spielplatz erscheint gegenüber dem elektronischen Medienangebot in der Wohnung zu wenig attraktiv.

 

Die „Verhäuslichung“ lässt sich in Zahlen ausdrücken: Nur jedes dritte Kind (35,8 Prozent) spielt jeden Tag im Freien. Zweimal pro Woche und mehr kommen 39 Prozent der Kinder an die frische Luft. Besonders erschreckend: 25,2 Prozent sind nur einmal pro Woche oder noch seltener draußen. 

 

Und die Verinselung? Immer mehr Kinder können heute den Lebensraum außerhalb der Wohnung kaum noch selbständig erobern und erweitern. Bewegungsaktivitäten finden oft so weit weg von der Wohnung statt, dass das Kind auf den Transport durch Erwachsene angewiesen ist. Professor Koletzko: „Der Gang zu Freunden wird zur Fahrt, der Besuch des Sportvereins, des Kinderballetts, der Musikschule oder sogar des Kindergartens oder der Schule zu einer Reise mit dem Auto, der Straßenbahn oder dem Schulbus. Ihre Freizeit verbringen Kinder nicht mehr wie früher in Gruppenspielen draußen, sondern spielen in der Wohnung zu zweit oder sogar ganz allein“.

 

Oder sie lassen sich unterhalten. Bei Schuleingangsuntersuchungen in Mannheim zeigt sich, dass jedes Vierte der fünf- bis sechsjährigen Kinder ein eigenes Fernsehgerät in seinem Zimmer hat, so dass schon in diesem frühen Lebensalter praktisch unbegrenzt fernsehen.

 

70 Prozent der Mädchen und 77 Prozent der Jungen zwischen drei und 13 Jahren sehen jeden Tag fern. Schon im Alter zwischen drei und fünf Jahren sitzen sie 75 Minuten lang vor dem Bildschirm, 10- bis 13-Jährige sind 108 Minuten mit audiovisuellen Medien beschäftigt. Beim Fernsehen, Musik hören oder an der Spielkonsole lernen sie, sich passiv zu verhalten. Sie erwarten, dass ihnen immer irgendetwas geboten wird und brauchen viele Dinge nicht selbst zu machen. Es entsteht ein Defizit an elementarer Wahrnehmungserfahrung, die sie über Bewegungen lernen könnten. Das Körpergefühl entwickelt sich nur unzureichend.

 

Eltern müssten Vorbild sein!

Kinder würden sich mehr bewegen, wenn die Erwachsenen sie ließen und mit gutem Beispiel vorangingen, betont die Stiftung Kindergesundheit. Doch was tun Mütter und Väter wirklich? Dazu einige Beispiele:

  • Sie sichern ihre Babys sorgsam im Tragekorb oder im Schalensitz, tragen sie so herum oder und verwahren sie darin im Auto, Einkaufswagen oder auf dem Küchentisch. Das ist zwar praktisch und auch sicher – aber Gift für Haltung und Entwicklung. Das Kind ist viel zu lange fest gegurtet und verliert jedes Gefühl für Schwerkraft und Gleichgewicht.
  • Babyhopser und die hoch gefährlichen Lauflerngeräte – anderswo längst verboten! – stehen bei uns immer noch hoch im Kurs und lassen dem Baby keine Möglichkeit, seine Motorik selbst zu entfalten.
  • Sportliche Mütter oder Väter joggen gern mit einem geländegängigen Kinderwagen – selber laufen würde dem Kind aber wesentlich besser gefallen.
  • Selbst das erste Dreirad hat oft einen Schiebegriff und macht das Kind passiv und träge.

 

Im schlaffen Körper verkümmert auch die Seele

Wenn Kinder sich in der Wohnung stundenlang mit dem Gameboy beschäftigen, vor der Glotze hocken oder am Computer kleben, droht ihnen nicht nur körperliches Unheil wie Übergewicht, Haltungsfehler oder Kreislaufschwäche. Professor Koletzko: “Durch die übermäßige Mediennutzung wird die Zeit knapp für die anderen Bereiche des kindlichen Lebens.

 

Vielseher führen seltener Gespräche mit anderen Kindern oder den Eltern und spielen seltener ein Musikinstrument als Wenigseher. Zu viel Fernsehen wirkt sich in der Schule ungünstig aus auf die Konzentration, die Aufmerksamkeit und das Leistungsniveau der Kinder und führt auch nachweislich zu vermehrter Gewaltbereitschaft”. 

 

Der Kinder- und Jugendarzt empfiehlt: “Eltern sollten den Fernsehkonsum ihrer Kinder rigoros kontrollieren. Eine Stunde Fernsehen pro Tag ist für zehn- bis elfjährige Schüler bereits genug. Außerdem sollten Eltern dringend darauf achten, dass für ausreichende Bewegung der Kinder gesorgt ist, zum Beispiel in einem Sportverein“.

 

Bewegung macht Kinder schlau, fit und friedlich

Bewegung macht Kinder auch klüger! Lernen durch Bewegung ist in der frühen Kindheit der wichtigste Motor der kognitiven Entwicklung.

Allein beim Gehen wird die Durchblutung des Gehirns um 13 Prozent erhöht. Es entstehen mehr Neurotrophine (Nervenbotenstoffe), es steigt die Zahl der Nervenverbindungen und das Aktivitätsniveau des Gehirns wird erhöht.

 

Die Hirnforschung zeigt, dass die Muskelaktivitäten für Denk- und Lernleistungen von großer Bedeutung sind. Denk- und  Wahrnehmungsleistungen sind eng an die Motorik gebunden. Untersuchungen ergaben, dass die Kinder, die über eine bessere Bewegungskoordination verfügen, sich auch besser konzentrieren können. Kinder, die in ihrer frühen Kindheit genügend Gelegenheit zu körperlicher Aktivität hatten, sind später in ihrer Sprachentwicklung weiter als Kinder, die ihre frühe Kindheit in Passivität verbringen müssen.

 

Nach Untersuchungen des Karlsruher Sportwissenschaftlers Professor Dr. Klaus Bös zeigen Kinder, die täglich Bewegungsangebote erhalten, seltener aggressives Verhalten. Sie erleiden auch deutlich weniger Unfälle. Sie gehen motivierter zur Schule, sind lernbereiter und werden in ihrer Persönlichkeit gestärkt.

 

TigerKids – drahtig und flott

Die kürzlich abgeschlossene Untersuchung von 17000 Kindern und Jugendlichen im bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) ermittelte: Heute sind in Deutschland von allen Kindern im Alter von 3-17 Jahren schon 15 Prozent übergewichtig und 6,3 Prozent adipös („fettleibig“).

 

Dazu Professor Dr. Berthold Koletzko: „Die Grundlagen für Übergewicht werden bereits im frühen Lebensalter gelegt. Deshalb hat die gemeinnützige Stiftung Kindergesundheit gemeinsam mit der Kinderklinik der Universität München und verschiedenen weiteren Partnern das Präventionsprojekt TigerKids zur Ernährungs- und Bewegungsintervention für Kindertageseinrichtungen entwickelt und führt es nun mit der finanziellen und logistischen Unterstützung der AOK bundesweit ein. Bis 2009 sollen mit dem TigerKids–Programm insgesamt 5000 Kindergärten erreicht werden“.

 

Die Stiftung entwickelte in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Klaus Bös ein Bewegungsprogramm, mit dessen Hilfe sich die Kinder dreimal pro Woche jeweils eine Stunde von ihren Erzieherinnen angeleitet bewegen. Neben spielerischen Übungen, die bestimmte Bereiche wie Ausdauer, Koordination, Schnelligkeit, Kraft und Beweglichkeit ansprechen, soll den TigerKids vor allem Spaß und Freude an der Bewegung vermittelt werden. Die Bewegungsstunden stehen immer unter einem bestimmten Thema: die Kinder spielen einen „Tag auf der Baustelle“, machen einen Ausflug zu den Indianern, bewegen sich im Straßenverkehr usw.

 

Professor Koletzko: „Unser Ziel ist eine Verhaltensänderung schon bei den ganz Kleinen, um ein gesundes, aktives Erwachsenwerden zu ermöglichen“.

 

Mehr Informationen unter:

www.kindergesundheit.de

www.tigerkids.de