Juni 2007

Im Mutterleib vorprogrammiert: gesundes Altern

Das Programm für gesundes Altern entsteht schon im Mutterleib – aber wie?

 

Stiftung Kindergesundheit informiert über die europäische Initiative EARNEST zur Erforschung der lebenslangen Auswirkungen der Ernährung von Schwangeren und Neugeborenen

 

Das Ungeborene lebt im Bauch seiner Mutter wie auf einer tropischen Insel: Es ist dort immer wohlig warm, die Umgebung heimelig und behaglich, das Essen stets üppig und von bester Qualität. Soweit der Idealzustand. In Wirklichkeit wird bereits dieser paradiesischer Lebensabschnitt von störenden Einflüssen bedroht. Ihre Folgen machen sich zwar oft erst Jahrzehnte später bemerkbar, beeinflussen jedoch in einem bisher ungeahnten Maß das Risiko, als Erwachsener an hohem Blutdruck, Zuckerkrankheit, Schlaganfall oder Herzinfarkt, Übergewicht oder Brustkrebs zu erkranken. Dieser, erst seit wenigen Jahren bekannte Zusammenhang wurde jetzt auf einem internationalen Symposium in Budapest eindrucksvoll bestätigt.

 

„In den neun Monaten vor der Geburt geschieht weit mehr als eine starr vorgegebene Entwicklung, an deren Ende die Geburt eines Babys steht“, berichtet Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit und Präsident der Budapester Konferenz. „Die Nährstoffe, Spurenelemente und Stresshormone, die von der Mutter über die Plazenta in den Kreislauf des Kindes gelangen, entscheiden nach unseren heutigen Erkenntnissen maßgeblich darüber, ob ein Mensch im Laufe seines Lebens an Zivilisationskrankheiten wie Hypertonie oder Diabetes erkranken wird, Übergewicht oder gefährlich hohe Cholesterinwerte entwickelt und deshalb für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Stoffwechsels anfällig wird“.

 

So weiß man heute, dass negative Einflüsse auf das Baby während der Schwangerschaft sogar das spätere Erkrankungsrisiko für Brustkrebs, eine Schizophrenie oder für Depressionen signifikant erhöhen können. „Diese programmierenden Einflüsse der Ernährung in der frühesten Lebensphase auf die Gesundheit im späteren Leben sind heute ein besonders wichtiges Thema der biomedizinischen Forschung, der Ernährungswissenschaft und auch der künftigen Ernährungspolitik“, betont Professor Koletzko.

 

 

EARNEST macht ernst mit der Prävention

Die Tatsache, dass die Ernährung im Mutterleib und in der frühen Kindheit den späteren Gesundheitszustand beeinflusst, wird heute von niemandem mehr bezweifelt. Wie lässt sich aber die negative Entwicklung umkehren? Mit dieser Frage setzt sich der Veranstalter der Budapester Konferenz, die Initiative „Early Nutrition Programming Project“(„EARNEST“), seit April 2005 auseinander. Unter der Koordination von Professor Berthold Koletzko gehen Wissenschaftler von 38 Institutionen in 16 europäischen Ländern mit verschiedenen Ansätzen an die Thematik heran. Im Verlauf von fünf Jahren sollen die Ergebnisse und Kenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsdomänen, wie klinische Forschung, Epidemiologie, Physiologie, Molekularbiologie, Soziologie und Ökonomie, integriert und vernetzt werden.

 

Die Initiative EARNEST hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Es sollen die Wirkmechanismen der metabolischen Prägung aufgeklärt und der Stellenwert von speziellen Nährstoffen und deren Interaktionen eingeschätzt werden. Professor Koletzko: „Zu unseren Zielen gehören auch die Klärung der individuell unterschiedlichen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Adipositas, Diabetes, Immunfunktion, Allergien, kognitive, neurologische und psychische Störungen, Knochengesundheit und einige Krebsarten, Bestimmung der kritischen Perioden, Identifizierung von mitverantwortlichen Genen und deren Bedeutung im Hinblick auf Prägung so wie die Erfassung der sozialen Einflüsse und ökonomischen Konsequenzen“.

 

In Rahmen von EARNEST wurden bereits viel versprechende Studien begonnen. So wird zum Beispiel die Entwicklung von Kindern bis ins frühe Erwachsenenalter nachverfolgt, um zu sehen, ob sich die in der Kindheit beobachteten Unterschiede manifestieren. Professor Koletzko: „Im Rahmen einer doppelblind randomisierten Studie kann zum Beispiel der Einfluss einer Fischölsupplementierung während der Schwangerschaft auf fetale Immunparameter weiterverfolgt und ihre Auswirkung auf die Allergiehäufigkeit erhoben werden“.

 

 

Mütter, futtert fette Fische!

Die Annahme, dass der häufige Verzehr von fetten Fischen vor Bluthochdruck, Arterienverkalkung und Thrombosen schützen kann, ist durch wissenschaftliche Studien bereits mehrfach bestätigt worden. Die im Öl von Hering, Heilbutt oder Lachs enthaltenen langkettigen und mehrfach ungesättigten Omega-3-Fettsäuren (abgekürzt: LC-PUFA) Docosahexaensäure DHA und Arachidonsäure AA nutzen jedoch schon dem Ungeborenen. Wie eine Arbeitsgruppe von Professor Koletzko am Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU München nachweisen konnte, gelangen sie aus dem mütterlichen Blut durch die Plazenta in den Organismus des Ungeborenen. LC-PUFAs beugen Früh- und Mangelgeburten vor, entfalten einen günstigen Effekt auf das Nervensystem, stärken die späteren Sehfunktionen und fördern die kognitive und motorische Entwicklung des Babys nach der Geburt.

 

Die Auswirkungen ergänzender Fischölgaben nach der Geburt wurden von einer dänischen Forschergruppe an gesunden Babys im Alter zwischen 9 und 12 Monaten untersucht. Wie C. T. Damsgaard auf der EARNEST-Konferenz in Budapest berichtete, ergab die an den Universitäten Kopenhagen und Aarhus durchgeführte Studie günstige Effekte auf den Blutdruck und Herzrhythmus der Kinder. Drei kleine Mädchen mussten allerdings aus der Studie ausgeschlossen werden: Sie haben sich schlicht geweigert, die mit Fischöl angereicherte Milchnahrung zu trinken...

 

Die Konferenz der an EARNEST beteiligten Wissenschaftler fand im Rahmen des 15. Europäischen Adipositas-Kongresses in Budapest statt. Professor Koletzko: „Das Übergewicht ist wegen seiner Häufigkeit und des Schweregrades eine globale Epidemie. Sie trifft nicht nur die Industrienationen sondern auch Entwicklungsländer. Selbst im ländlichen China steigt die Zahl der Übergewichtigen. Die heutigen Therapiemaßnahmen sind alles andere als zufrieden stellend, so dass wir die Aufgabe haben, eine effektive Prävention zu etablieren. Das Risiko des Einzelnen, übergewichtig zu werden, ist zwar stark von der Veranlagung abhängig. Die Gene allein können jedoch die rasante Zunahme des Übergewichts nicht erklären. Meine Kollegen und ich versuchen, im Rahmen der Studien von EARNEST herauszufinden, welche Rolle die metabolische Prägung, also die Einwirkung von prä- und postnatalen Faktoren auf die Stoffwechselsituation des Kindes spielt, und warum sie das Risiko für den Einzelnen steigert, später übergewichtig zu werden“.

 

 

Schwergewichtler auf der Schulbank

Das Problem wird immer brennender. So berichtete Dr. Hanswijck de Jonge in Budapest über Messungen bei Kindern auf den karibischen Cayman Inseln. Dort sind bei der Einschulung mittlerweile 39 Prozent der ABC-Schützen übergewichtig, mehr als doppelt so viele als noch vor 20 Jahren.

 

Ob ein Baby nach der Geburt gestillt oder mit dem Fläschchen aufgezogen wird, beeinflusst offenbar das Risiko, später übergewichtig zu werden. Längeres Stillen scheint langfristig günstige Auswirkungen auf das Auftreten von Fettleibigkeit zu haben. Die Arbeitsgruppe von Professor Koletzko setzte in einer Querschnittsstudie von 9.357 Kindern die frühkindliche Ernährung und Faktoren des elterlichen Lebensstils in Beziehung mit dem Körpergewicht. Zum Zeitpunkt des Schuleintritts kam Übergewicht bei mit Säuglingsnahrung gefütterten Kindern 1,6-mal häufiger vor als bei gestillten Kindern. Professor Koletzko: „Es gibt auch einige Hinweise darauf, dass das niedrige Risiko für Übergewicht oder Fettleibigkeit bei gestillten Kindern mit den Merkmalen der Muttermilch – hormonelle Einflüsse, bioaktive Faktoren, niedrigere Energieaufnahme oder niedrige Eiweißaufnahme – zusammenhängen kann. Alle diese Merkmale können langfristige Auswirkungen haben“.

 

Gestillte Säuglinge zeigen im Mittel eine geringere Gewichtszunahme im ersten Lebensjahr als mit der Flasche ernährte Kinder, was aber positiv zu werten ist: Tatsächlich ist eine rasche Gewichtszunahme in den ersten beiden Lebensjahren mit erhöhtem späteren Adipositasrisiko assoziiert. Es gibt überdies Hinweise darauf, dass untergewichtige Neugeborene, so zum Beispiel zu früh geborene Babys, von ihren besorgten Eltern überfüttert werden. Das führt jedoch zu einer überproportionalen Gewichtszunahme in den ersten Lebensmonaten. In epidemiologischen Studien erwies sich dieses Phänomen – englisch als „rapid early weight gain“ bezeichnet – als Risikofaktor für Übergewicht und andere metabolische Störungen.

 

 

Geburtshelfer und Kinderarzt - zuständig für lebenslange Gesundheit?

Bisher wurden für die meisten chronischen Erkrankungen des Erwachsenenalters vor allem die Erbanlagen als Ursache angenommen, Faktoren, die heute noch nicht beeinflusst werden können. Lässt sich jedoch eine metabolische Prägung über die frühe Ernährung als Ursache dingfest machen, eröffnen sich für die Vorbeugung neue und unter Umständen entscheidende Aspekte von hoher sozialer Bedeutung. Professor Koletzko: „Wir möchten mit Hilfe der Forschungsergebnisse Maßnahmen zur Primärprävention konzipieren, evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen erstellen und verbesserte Lebensmittel für schwangere Frauen und Säuglinge entwickeln. Angesichts der bereits vorliegenden Ergebnisse und der angelaufenen Studien bin ich überzeugt, dass sich eines Tages eine präventive metabolische Programmierung der langfristigen Gesundheit umsetzen lässt. Im Klartext: Zukünftig könnten bereits Kinder- und Jugendärzte und sogar die Geburtshelfer einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung von chronischen Erkrankungen im Erwachsenenalter leisten“.

 

Die Europäische Union fördert die Initiative EARNEST mit 13,4 Millionen Euro, das gesamte Kostenvolumen beträgt 16,5 Millionen Euro. Am bis zum 14. April 2010 laufenden Projekt sind die Partnerländer Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen, Polen, Schweden, Schweiz, Spanien, Tschechien, Ungarn und Weißrussland beteiligt.

 

Weitere Informationen über das Projekt finden Sie im Internet unter www.metabolic-programming.org