August 2010

Nicht wegsehen, wenn Kinder saufen!

Alkoholmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen

Ein Appell der Stiftung Kindergesundheit an Eltern, Politik und Gesellschaft.

Die Stiftung Kindergesundheit schlägt Alarm: Die Folgen von Alkoholmissbrauch bedrohen längst nicht mehr nur erwachsene Männer und Frauen allein - sie sind ein brennendes Problem der Kinder- und Jugendmedizin geworden. An jedem Wochenende werden 140 Kinder mit einer Alkoholvergiftung in die deutschen Kinderkliniken aufgenommen. Junge Mädchen sind mittlerweile fast genauso häufig unter ihnen wie Jungen.

 

Anlässlich eines von der Stiftung Kindergesundheit und der Deutschen Kinderhilfe gemeinsam veranstalteten wissenschaftlichen Symposiums zum Thema „Alkoholmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen“ in München referierten und diskutierten Experten aus Medizin, Forschung, Gesundheitspolitik und Polizei über den Umgang mit Alkohol, insbesondere über den Besorgnis erregenden Anstieg des Koma-Saufens bei den Jüngsten sowie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft.

 

Die Fachleute waren sich einig: Elternhaus, Schule und Kommunen, Medizin und Jugendschutz, Gesellschaft, Medien und Politik dürfen nicht länger die Augen verschließen vor dem enorm gewachsenen Problem von Kindern im Vollrausch.

"Die Zahl der mit Alkoholvergiftung in deutsche Krankenhäuser eingewiesenen Kinder und Jugendlichen hat in nur acht Jahren um fast das Dreifache zugenommen" sagte Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: "Jeder Fünfte der eingelieferten Patienten ist erst zehn bis 15 Jahre alt!"

Georg Ehrmann, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe bekräftigte: "In Deutschland sind rund 160 000 Kinder und Jugendliche von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit betroffen – etwa so viele wie Städte wie Darmstadt, Heidelberg oder Potsdam Einwohner haben. Diese Zahl verdeutlicht, dass die Politik nicht länger die Hände in den Schoß legen darf. Sie ist aufgefordert, den Jugendschutz endlich ernst zu nehmen und die bestehenden Bestimmungen konsequent anzuwenden".

 

"Vorglühen" zum "Kübelsaufen"

Vor kurzem noch unbekannte Begriffe wie Flatrate-Trinken, Vorglühen, Kübelsaufen, Kofferraumparty oder Komasaufen gehören mittlerweile zum täglichen Wortschatz auf dem Schulhof und in den Medien. Der Trend wird von verantwortungslosen Betreibern von Diskotheken, Kneipen oder Veranstaltern unterstützt, mit verlockenden Angeboten wie "Happy Hour", "Turmsaufen", "Wodka-Night", "Pisserparty" usw. (Die vielleicht notwendige Erklärung für den aus Österreich stammenden Begriff "Pisserparty": "Alle Schankgetränke sind so lange gratis bis der/die Erste zur Toilette gehen muss").

Für das neuartige Trinkverhalten von Kindern und Jugendlichen hat sich international der Oberbegriff "Binge-Drinking" eingebürgert. Gemeint ist damit ein Alkoholkonsum, der innerhalb von zwei Stunden eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,8 Promille erzeugt. In den Medien wird Binge-Drinking oft auch mit anderen Begriffen gleichgesetzt wie Kampf- oder Wetttrinken, bewusstes Rauschtrinken oder Komasaufen.

Die letzte Bezeichnung beschreibt den Konsum einer so großen Alkoholmenge, dass ein medizinisches Koma die Folge ist, eine tiefe, länger dauernde Bewusstlosigkeit ohne Reaktionen auf Ansprache oder Schmerzreize. Leider hat gerade die Bezeichnung Komatrinken bei Jugendlichen einen Sensationalisierungseffekt, der sie eher anspornt als sie vom Trinken abhält, bedauert die Stiftung Kindergesundheit.

 

Die gute Nachricht ist: Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ist der Alkoholkonsum bei den unter 20-Jährigen in den letzten 40 Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Tranken in den Siebzigern noch über 60 Prozent der männlichen Jugendlichen in Bayern zwischen 15 und 17 Jahren regelmäßig Alkohol, sank dieser Anteil bis zum Jahr 2008 auf 23 Prozent. Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist auch das Binge-Drinking bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren von 25,5 Prozent im Jahr 2007 zurückgegangen, lag allerdings 2008 immer noch bei 20,4 Prozent. Im Bundesdurchschnitt lehnen 18,2 Prozent der 15- bis 16-Jährigen den Alkohol völlig ab.

Gleichzeitig allerdings hat der Anteil derjenigen, die sich bis zum Vollrausch betrinken, deutlich zugenommen. Diejenigen, die trinken, trinken immer extremer, mehr und schneller.

 

Trinken bis der Arzt kommt

Eine Alkoholvergiftung hat für Kinder und Jugendliche deutlich gravierendere Folgen als für Erwachsene, betont die Stiftung Kindergesundheit. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass das für den Abbau des Alkohols zuständige Enzym Alkohol-Dehydrogenase in ihrem Organismus noch nicht so trainiert ist wie bei Erwachsenen. Außerdem trinken sie meist nicht im Rahmen einer Mahlzeit, sondern mit dem erklärten Ziel, die Wirkung des Alkohols auszuprobieren oder um schnell betrunken zu werden.

 

Die akuten Folgen einer Alkoholintoxikation sind unter ander

  • eine Entgleisung im Säure-Base-Haushalt mit der Folge von Hirnschwellungen und Nierenversagen;
  • ein Kaliummangel, der zu Störungen des Herzrhythmus führen kann;
  • Unterzuckerung;
  • Unterkühlung;
  • Erbrechen in Verbindung mit Reflexlähmungen und der möglichen Folge eines Todes durch Ersticken;
  • epileptische Anfälle und Hirninfarkte.

Die größte Gefahr des Alkohols liegt für Kinder und Jugendliche nicht wie bei Erwachsenen in der drohenden Abhängigkeit. Ihr wichtigstes Risiko ist, bei den Alkoholexzessen Schäden zu erleiden, durch Stürze und Unfälle, aggressive Entgleisungen, Schule schwänzen, betrunken Moped fahren, Streit, Schlägereien und Konflikte mit dem Gesetz.

Für junge Mädchen steigt das Risiko um das dreifache, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden!

 

Aufklärung muss früh beginnen

"Die ersten Alkoholerfahrungen finden heute oft schon sehr früh statt – deshalb sollte auch die Prävention gegen Alkoholmissbrauch in einem frühen Stadium beginnen", sagt Professor Berthold Koletzko. "Spätestens in der 5. bis 7. Schulklasse sollte Kindern auch die Gefährlichkeit von Fehlverhalten im Umgang mit Alkohol und Rauchen vermittelt werden".

 

Auch die bayerische Familienministerin Christine Haderthauer setzte sich bei der Münchener Tagung für stärkere Präventionsmaßnahmen ein: "Wir müssen alles tun, um das gezielte Kampftrinken, das bei Kindern und Jugendlichen immer jüngeren Alters grassiert, zu bekämpfen. Dabei sind aber zu allererst die Eltern in der Pflicht. Viele von ihnen schwanken heute zwischen Vernachlässigung und Überforderung. Aber Liebe kann der Staat nicht ersetzen und auch nicht subventionieren. Eltern müssen deshalb an ihre Aufsichtspflicht erinnert werden".

Kinder sollten lernen, dass zwischen Werbung und dem wahren Leben eine große Diskrepanz klafft, empfiehlt die Stiftung Kindergesundheit. Heranwachsende sind heute einer Flut von medialen Botschaften ausgesetzt, die zum Konsum von Alkohol anregen. Nach einer aktuellen Studie verstärkt die Alkoholwerbung im Fernsehen, in Kinos und in den Printmedien den Trend zum exzessiven Trinken bei Jugendlichen. Sie suggeriert Erfolg, Glück und Spaß durch Alkohol. Jugendliche trinken umso mehr Alkohol, je öfter sie mit Alkoholwerbung in Kontakt kommen.

 

Kein "Alk" unter 14

Die Experten waren sich einig: Bis zum 14. Lebensjahr muss Alkohol tabu bleiben. Danach sollten Heranwachsende am besten im eigenen Elternhaus lernen, mit Alkohol umzugehen. 14- und 15-Jährige können bei besonderen Anlässen wie Familienfesten oder an Sylvester mit den Eltern ein Glas Sekt, Wein oder Bier probieren. Ab dem Alter von 16 Jahren können Jugendliche Wein oder Bier konsumieren, während Schnäpse und andere Spirituosen erst im Erwachsenenalter toleriert werden. Leider überlassen viele Eltern heute den Einstieg zum Alkoholgenuss meist dem Zufall, statt ihn ihrem Kind im Kreis der Familie bewusst zu gestalten.

 

Befürwortet werden auch Maßnahmen im öffentlichen Raum, die einem Missbrauch vorbeugen können. Dazu gehören die stärkere Überwachung der Verkaufs- und Abgabeverbote alkoholischer Getränke an Kinder und Jugendliche und die konsequente und empfindliche Bestrafung von Übertretungen, eine Begrenzung von auf alkoholische Getränke bezogene, an Jugendliche adressierte Werbung und Sponsoring, sowie ein Ende des nächtlichen Alkoholverkaufes z. B. an Tankstellen, so wie es mit präventiver Wirksamkeit in Baden-Württemberg und auch in vielen europäischen Ländern eingeführt wurde.

 

Vorbilder statt Verbote!

Der wichtigste Wegweiser im Umgang mit Alkohol ist und bleibt das Elternhaus. Der Leitsatz lautet: Statt Abschreckung und Verbote auszusprechen, sollten Eltern selbst Vorbild sein.

Die Stiftung Kindergesundheit empfiehlt:

  • Wenn ihr Kind ohne ihr Wissen Alkohol getrunken hat, sollten Eltern sich Zeit nehmen für ein Gespräch in ruhiger Atmosphäre. Sie sollten das Kind nach den Gründen fragen und ihre eigene Sorge formulieren.
  • Sie sollten ihre eindeutige Haltung zu dem Vorfall zum Ausdruck bringen und konsequent die Einhaltung verbindlicher Regeln verlangen.
  • Auch wenn ihre Tochter oder ihr Sohn mit dem für dieses Alter typischen Protest reagiert, sollten Eltern dem Kind klarmachen: Alkohol ist nichts für Kinder.
  • Eine nachlässig "lockere" Haltung von Eltern kann zu allzu frühem und schädlichem Alkoholkonsum ihrer Kinder führen. Es ist deshalb unumgänglich, sich um das Alkoholproblem zu kümmern und sich über das Verhalten des Kindes Sorgen zu machen.
     

Hier gibt es weitere Informationen:

Empfehlenswerte Literatur:

Rainer Thomasius, Thomas Nessler, Frank Häsler: „Wenn Jugendliche trinken: Auswege aus Flatrate-Trinken und Koma-Saufen. Jugendliche, Experten und Eltern berichten“. Trias-Verlag. 17,95 Euro.