Juni 2010

Die Kraft der frühen Programmierung

Stiftung Kindergesundheit: Einflüsse am Anfang des Lebens können die Gesundheit bis ins hohe Alter prägen

 

Lebensläufe beginnen meistens mit dem Tag der Geburt. Die gesundheitliche Karriere eines Menschen startet jedoch schon viel früher, stellt die in München beheimatete Stiftung Kindergesundheit fest. Das Programm für das Wohlbefinden im späteren Leben und für die langfristige Gesundheit im Erwachsenenalter entsteht bereits in einer sehr frühen Phase der Entwicklung im Mutterleib und wird durch Ernährung und Lebensstil der Mutter in bemerkenswert hohem Maße beeinflusst.

 

"Die Tatsache, dass die Ernährung im Mutterleib und in der frühen Kindheit den späteren Gesundheitszustand beeinflusst, wird heute von niemandem mehr bezweifelt", sagt Professor Dr. Berthold Koletzko, Stoffwechselexperte der Universitäts-Kinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: "Mittlerweile gibt es immer mehr Beweise dafür, dass die Nährstoffe, Spurenelemente und Stresshormone, die vom mütterlichen Organismus in den Kreislauf des Kindes gelangen, maßgeblich darüber entscheiden, ob ein Mensch im Laufe seines Lebens an Zivilisationskrankheiten wie Hypertonie oder Diabetes erkranken wird, Übergewicht oder gefährlich hohe Cholesterinwerte entwickelt und deshalb für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Stoffwechsels anfällig wird. Die positiven oder auch negativen Effekte der vorgeburtlichen Programmierung können sich noch viele Jahre später bemerkbar machen.".

 

Diese, erst seit wenigen Jahren bekannten Zusammenhänge wurden vor kurzem auf der internationalen Konferenz "The Power of Programming" in München eindrucksvoll bestätigt. Organisiert wurde die Tagung von EARNEST ("Early Nutrition Programming Project"), einem von der EU geförderten Forschungsprogramm, das von Professor Koletzko koordiniert wird. 600 Wissenschaftler aus 51 Ländern präsentierten die neuesten Forschungsergebnisse über die Faktoren, die der metabolischen Programmierung durch die frühe Ernährung zu Grunde liegen.

 

Zielvorgaben aus der Mutterbrust

Als ein besonders wichtiger "positiver Programmierer" gilt die Muttermilch. Sie enthält eine Reihe von Abwehrstoffen, die miteinander zusammenwirken und Infektionen und Entzündungen verhindern können. So ist das Risiko eines voll- oder teilgestillten Babys, an akuten Magen-Darm-Infekten zu erkranken, nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in westlichen Industrienationen etwa vier- bis fünfmal geringer als von Kindern, die ausschließlich Flaschennahrung bekommen. Vergleichende Studien über das relative Risiko von gestillten und nicht gestillten Kindern haben zudem beeindruckende langfristige Unterschiede aufgedeckt. Professor Koletzko: "Diabetes mellitus Typ I kommt doppelt so häufig bei nach der Geburt nicht gestillten Kindern vor; die chronisch-entzündliche Darmerkrankung Morbus Crohn tritt ebenfalls deutlich häufiger bei früher nicht gestillten Kindern im Vergleich zu gestillten Kindern auf".

 

In einer der EARNEST-Projektgruppen konnten die Forscher zeigen, dass positive Wirkungen des Stillens auf die kindliche Entwicklung mit der im Vergleich zu kommerzieller Säuglingsmilch anderen Fettzusammensetzung der Muttermilch zusammenhängen. Wurden die Fette der Säuglingsnahrung dem Vorbild der Muttermilch angeglichen, zeigte sich entsprechende Vorteile.

 

Auch der Eiweißgehalt der Nahrung ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Babys. Das ergab die ebenfalls von Professor Koletzko koordinierte Langzeitstudie "European Childhood Obesity Projekt" (CHOP). Für diese Studie werden mehr als 1.000 Säuglinge regelmäßig untersucht. Ergebnisse zeigen, dass Flaschenkinder, die ein weniger proteinreiches Milchpräparat (vergleichbar der Muttermilch) erhielten, am Ende der Studie im Durchschnitt etwas weniger an Gewicht zugenommen hatten als Flaschenkinder, deren Nahrung einen höheren Proteingehalt aufwies. Die verminderte Eiweißzufuhr führte zu einer Gewichtszunahme wie bei gestillten Kindern. Die Forscher berechneten, dass eine solche Verringerung der frühen Wachstumsrate zu einer 13-prozentigen Verringerung von Adipositas ("Fettsucht") im Alter von 14 bis 16 Jahren führt.

 

Etwas widersprüchlich sind die Erkenntnisse aus internationalen Studien, in denen der Einfluss des Stillens auf das spätere Allergierisiko der Babys untersucht wurde. Stillen für 3 – 4 Monate ist mit einem Schutz vor dem atopischen Ekzem (Neurodermitis) verbunden. Es gibt allerdings auch Hinweise, dass eine deutlich über die empfohlenen sechs Monate hinaus verlängerte, ausschließliche Ernährung an der Mutterbrust das Risiko einer Neurodermitis oder eines Asthmas für das Kind erhöhen kann, wenn die Mutter selbst Allergikerin ist oder unter Asthma leidet. Professor Koletzko: "Offenbar ist die Schutzwirkung der Muttermilch gegenüber Allergien auch von genetischen Faktoren und Umweltbedingungen abhängig".

 

Nervenkraft aus dem Ozean

Die Annahme, dass der häufige Verzehr von fetten Fischen vor Bluthochdruck, Arterienverkalkung und Thrombosen schützen kann, ist durch wissenschaftliche Studien bereits mehrfach bestätigt worden. Die im Öl von Hering, Heilbutt oder Lachs enthaltenen langkettigen und mehrfach ungesättigten Omega-3-Fettsäure (abgekürzt: LC-PUFA) Docosahexaensäure (DHA) nutzen jedoch schon dem Ungeborenen. Fisch ist kein Tabu mehr für Schwangere, im Gegenteil: Fischkonsum in der Schwangerschaft und Stillzeit und während des ersten Lebensjahrs des Babys schadet nicht, sondern schützt nach einer schwedischen Studie bei 8.176 Familien sogar vor Allergien.

 

Mütter, die in der Schwangerschaft reichlich Fisch verzehren, unterstützen damit auch die Intelligenzentwicklung ihres Kindes, berichtete eine dänische Forschergruppe bei der Tagung in München. Die Untersuchung der Konsumgewohnheiten bei 1.783 Mutter-Kind-Paaren ergab einen moderat positiven Zusammenhang zwischen dem Fischkonsum der Mütter und dem Intelligenz-Quotienten ihrer Kinder im Alter von fünf Jahren.

 

Das Geheimnis von Zwiebeln und Blattsalat

Die Stiftung Kindergesundheit setzt sich seit langem für eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Folsäure ein, einem Vitamin aus der Gruppe der B-Vitamine, das an der Bildung und Reifung von roten Blutkörperchen beteiligt ist. Folsäure (Folat) spielt auch für die gesunde Entwicklung von Rückenmark und Gehirn des Babys eine wichtige Rolle: Sie kann die Entstehung von so genannten Neuralrohrdefekten verhindern.

 

Neu und bemerkenswert sind die in München vorgestellten Erkenntnisse britischer und dänischer Forschergruppen über Folatmangel in der Schwangerschaft und späteren Verhaltensauffälligkeiten bei ihren Kinde

  • Eine dänische Studie mit 34.649 Kindern ermittelte: Je mehr folatreiches Gemüse, wie Zwiebeln, Tomaten und Blattsalat die Mütter während ihrer Schwangerschaft zu sich nahmen, umso besser fiel die psychomotorische Entwicklung ihrer Kinder im Alter von 18 Monaten aus.
  • Eine Studie in Doncaster (U.K.) ergab einen deutlichen Zusammenhang zwischen Folatmangel in der Schwangerschaft und Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern mit 18 Monaten.
  • Eine Arbeitsgruppe der Universität Southampton bestimmte den Folatgehalt in den roten Blutkörperchen von hundert Schwangeren und befragte die Mütter Jahre später über eventuelle Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder. Das Ergebnis: Waren die Mütter schlecht mit Folsäure versorgt, zeigten ihre Kinder im Durchschnittsalter von 8,75 Jahren häufiger Symptome von Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit und sozialer Einordnung.

 

"Die metabolische Programmierung ist ein relativ junges Forschungsgebiet, das aber bereits beachtliche Fortschritte in der Erforschung von langfristigen Folgen frühkindlicher Ernährung erzielt hat", resümiert Professor Koletzko. "Die in München präsentierten Forschungsergebnisse haben das Potential, die Gesundheit und das Wohlergehen künftiger Generationen enorm zu verbessern. Aber um wirklich zu verstehen, wie die schädlichen Auswirkungen von Umweltfaktoren auf die zukünftige Gesundheit entstehen und wie Mütter ihre Kinder vor solchen Schäden schützen können, muss noch sehr viel geforscht werden".