April 2007

Die neuen Impfungen - der Königsweg der Prävention

Die spektakulärsten Erfolge hat die Medizin nicht mit Medikamenten erzielt, die bereits bestehende Krankheiten bekämpfen, sondern mit Mitteln, die das Ausbrechen der Krankheit von vornherein verhindern: mit Impfungen. Sie haben unzählige Menschen vor Infektionskrankheiten geschützt und zählen zu den effektivsten und kostengünstigsten vorbeugenden Maßnahmen der modernen Medizin, unterstreicht die „Stiftung Kindergesundheit“ in ihrer aktuellen Stellungnahme.

 

„Gesund bleiben - sich vor Infektionskrankheiten schützen“, lautete das diesjährige Motto der Weltgesundheitsorganisation WHO. „Der Königsweg zu diesem wichtigen Ziel sind die Impfungen“, konstatiert der Münchner Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: „Groß angelegte Impfprogramme haben in den letzten Jahren weltweit zum Rückgang zahlreicher bedrohlicher übertragbarer Krankheiten geführt. Die besten Beispiele dafür sind die Ausrottung der Pocken 1980 und das Zurückdrängen der Kinderlähmung auf nur noch wenige Gebiete der Erde. Es gibt kaum eine andere medizinische Maßnahme, die weltweit so viele schwere Krankheits- und Todesfälle verhindert wie die Impfungen“.

 

In früheren Jahren waren Infektionskrankheiten die häufigste Todesursache bei Kindern. Um 1900 starben im damaligen Deutschen Reich allein an Keuchhusten, Diphtherie und Scharlach jährlich noch 65.000 Kinder (bei einer Einwohnerzahl von 58 Millionen). 1938 starben in Deutschland 5.484 Kinder an Diphtherie, dem gefürchteten „Würger der Kinder“. Die angeblich so harmlose „Kinderkrankheit“ Masern forderte damals 1.569 Kinderleben, an Keuchhusten starben 2.522 Babys und Kleinkinder.

Keine Schluckimpfung mehr gegen Kinderlähmung

1952 gab es im westlichen Teil Deutschlands rund 10.000 Fälle von Kinderlähmung, 730 der Betroffenen starben. Seit Beginn der Impfungen - in der DDR 1960, in Westdeutschland 1962 - verschwand die Krankheit mehr und mehr, die letzte Infektion mit dem Polio-Wildvirus liegt 17 Jahre zurück. Statt der seit millionenfach bewährten Schluckimpfung gegen Kinderlähmung wird heute eine Injektionsimpfung empfohlen. Der Grund liegt paradoxerweise im beispiellosen Erfolg der Schluckimpfung: Die Krankheit selbst kommt bei uns zwar nicht mehr vor. Die Schluckimpfung enthielt jedoch abgeschwächte Lebendviren, die – allerdings im extrem seltenen Fällen – zu einer Impf-Polio geführt haben. Der Injektionsimpfstoff (IPV) enthält dagegen abgetötete Polioviren, bei denen auch dieses seltene Risiko nicht mehr besteht.

 

Vor 30 Jahren enthielt der Impfplan der Ständigen Impfkommission STIKO insgesamt neun Impfungen. Eine davon gibt es nicht mehr, denn die Pocken sind mittlerweile ausgerottet. Auch die BCG-Impfung gegen Tuberkulose wird nicht mehr empfohlen. Dennoch enthält der aktuelle Impfkalender 13 Impfungen, von denen die letzte, die Impfung gegen den Gebärmutterhalskrebs, erst vor wenigen Tagen, Ende März hinzugekommen ist.

 

Die Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf) und Keuchhusten sind auf dem Impfplan geblieben, ebenso die Impfungen gegen Kinderlähmung, Mumps, Masern und Röteln.

In der Zwischenzeit hinzugekommen sind folgende Impfungen:

 

 

Hib

Die segensreiche Wirkung der Impfungen lässt sich am Beispiel dieser 1990 eingeführten Impfung gut demonstrieren. Sie schützt die Kinder vor dem Bakterium Haemophilus influenzae B (Hib). Auf das Konto dieses Erregers ging früher in Deutschland jede zweite eitrige Hirnhautentzündung im Kleinkindalter. Die Meningitis ist die häufigste Ursache von ernsten hirnorganischen Schäden. In jedem vierten Fall muss mit Krampfleiden, Hör- und Sprachstörungen sowie bleibenden geistigen Behinderungen gerechnet werden.

Eine zweite gefährliche Krankheit, die durch den Hib-Erreger ausgelöst wird, ist die Kehldeckelentzündung (Epiglottitis). Daneben kann Hib eitrige Angina, Mittelohrentzündungen, Lungenentzündungen und Gelenkkrankheiten verursachen. Die  neue Impfung ist von den meisten Eltern sofort akzeptiert worden, heute sind 88 Prozent der Kinder gegen Hib geimpft.  Der Erfolg kann sich sehen lassen: Die Zahl der Hib-Infektionen ging drastisch zurück, von etwa 1.600 Fällen pro Jahr vor der Impfung auf nur noch 20 bis 30 Erkrankungen!

 

 

Hepatitis B

Ursache ist ein Virus, das typische Zeichen der Krankheit ist die Gelbsucht. Die Infektion verläuft aber häufig unbemerkt oder macht sich nur durch untypische Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder Müdigkeit bemerkbar. Bei fünf bis zehn Prozent der angesteckten Personen wird die Infektion chronisch. Diese Personen können das Virus lebenslang weiterverbreiten und nach Jahren oder Jahrzehnten an einer Leberschrumpfung (Zirrhose) oder an einem Leberkrebs erkranken. Das Virus von Hepatitis B wird durch Blut und Sexualkontakte übertragen. Eine infizierte Mutter kann bei der Geburt ihr Kind anstecken.

 

 

Windpocken

Untersuchungen von 1.334 Windpockenfällen zeigen, dass von einer „völlig harmlosen“ Erkrankung nicht die Rede sein kann. Es kam es bei 16 Prozent der Patienten zu einem schweren Krankheitsverlauf. Die Komplikationsrate betrug 5,7 Prozent, darunter viele Lungenentzündungen und Mittelohrentzündungen. Pro Jahr treten in Deutschland etwa 740.000 Windpockenfälle auf. Davon verlaufen 40.000 mit Komplikationen, die in über 5.700 Fällen eine Aufnahme in einem Krankenhaus erforderlich machen. Jährlich muss mit 22 Todesfällen durch Windpocken gerechnet werden.

 

 

Pneumokokken

Diese Bakterien – auch Streptococcus pneumoniae (Pneumonie = Lungenentzündung) genannt – gelten als gerade für junge Kinder besonders gefährliche Erreger von Infektionen. Das Immunsystem von Babys und kleinen Kindern ist nämlich noch nicht in der Lage, gegen Pneumokokken wirksame Abwehrkräfte zu bilden. Pneumokokken sind bei Kindern die dritthäufigste Ursache für Hirnhautentzündungen (Meningitis) und können auch weitere schwere Infektionen hervorrufen. Die Zahl solcher „invasiven“  Infektionen liegt in Deutschland zwischen 1.000 und 1.500 bei Kindern unter 16 Jahren. Bei 200 bis 250 Kindern führen die aggressiven Keime zu einer Hirnhautentzündung, die in etwa sieben Prozent der Fälle tödlich verläuft. Wegen einer Lungenentzündung durch Pneumokokken müssen bis zu 15.000 Kinder ins Krankenhaus, die Zahl der zu Hause behandelten Kinder liegt zwischen 30.000 und 45.000. Jedes Jahr erleidet außerdem über eine halbe Million Kinder eine Mittelohrentzündung durch Pneumokokken. Nach einer invasiven Pneumokokken-Erkrankung hat jedes siebte Kind (15,1 Prozent) unter Folgeschäden zu leiden, wobei Hörstörungen bis zur Taubheit die häufigste Spätfolge darstellen. 

 

 

Meningokokken

Bis zu 30 Prozent der Bevölkerung sind symptomlose Träger von Meningokokken (Neisseria meningitidis), ohne durch sie zu erkranken. Unter bestimmten Voraussetzungen, wie einer Immunschwäche, einer Schädigung der Schleimhäute durch  Virusinfektionen, trockene Luft oder andere schädigende Ursachen (z. B. Zigarettenrauch) können die Erreger durch die Schleimhäute eindringen und schwere, lebensgefährlich verlaufende Erkrankungen auslösen. Am häufigsten betroffen sind Kinder unter fünf Jahren, darunter vor allem Babys unter einem Jahr. Die Infektion führt meistens zu einer eitrigen Meningitis, es kann sich aber auch eine so genannte Sepsis entwickeln, eine hochgefährliche Überschwemmung des ganzen Körpers mit Bakterien. Manche Betroffene können konnten trotz Behandlung mit Antibiotika nicht gerettet werden.

 

Es gibt 13 verschiedene Typen von Meningokokken, von denen in Deutschland fast ausschließlich die Typen B und C vorkommen. Gegen die häufiger auftretenden Meningokokken des Typs B gibt es leider noch keinen Impfstoff. Gegen Typ C dagegen gibt es gut verträgliche Impfstoffe. Sie sind auch für die besonders gefährdete Altersgruppe der Kinder unter zwei Jahren geeignet und können bereits ab zwei Monaten verabreicht werden.

 

 

Gebärmutterhalskrebs

Forscher am Krebsforschungszentrum in Heidelberg führten vor 27 Jahren den Nachweis, dass so genannte Humane Papilloma-Viren (HPV) an der Entstehung von Gebärmutterhalskrebs beteiligt sind. Bisher sind über 100 verschiedene Virentypen bekannt. Einige verursachen gutartige Tumore, Papillome genannt. Man findet sie besonders häufig als Warzen an Händen und Füßen. Die Papillome kommen auch im Rachen, in der Luftröhre oder an anderen Stellen vor. Man bezeichnet sie auch als Kondylome, wenn sie im Genitalbereich auftreten. Der Volksmund nennt sie „Feigwarzen“.

Nach Schätzungen sind heute 25 bis 30 Prozent aller Frauen von einer Infektion mit Papilloma-Viren betroffen. Die Virustypen HPV 16 und HPV 18 verursachen keine Warzen, sondern können sich durch relativ unauffällige weißliche und rötliche Flecken auf der Schleimhaut zeigen. Einige von ihnen können sich aber über viele Jahre hinweg zu bösartigen Tumoren entwickeln. Diese Viren sind für über 70 Prozent aller Fälle von Gebärmutterhalskrebs verantwortlich. Die STIKO empfiehlt seit März 2007 eine generelle Impfung gegen die Typen HPV 16 und 18 für alle Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren. Die HPV-Impfung mit drei Dosen sollte vor dem ersten Geschlechtsverkehr abgeschlossen sein.

 

 

Neu im Visier: Rotaviren

Die mit Abstand häufigste Ursache von Durchfall im Baby- und Kleinkindalter sind die so genannten Rotaviren. Seit kurzem gibt es auch gegen diese Erreger gut verträgliche Impfstoffe. Rotaviren sind mit etwa 111 Millionen Fällen pro Jahr weltweit die häufigste Ursache von Durchfall im Kindesalter und mit 400.000 bis 600.000 Todesfällen bei Kindern unter fünf Jahren die dritthäufigste Todesursache in Entwicklungsländern. In Deutschland ist die Sterblichkeit zum Glück gering, die Erkrankungshäufigkeit aber ebenfalls beträchtlich. Laut STIKO muss bei Kindern unter fünf Jahren mit etwa 256.000 Erkrankungen ohne Arztbesuch und etwa 145.000 ambulanten Arztbesuchen wegen einer Rotavirus-Infektion gerechnet werden. 22.000 Kinder müssen ins Krankenhaus. Trotz Hygienemaßnahmen in den Kinderkliniken werden dort 16.000 bis 18.000 Kinder mit den Durchfallviren angesteckt. Die Infektion führt bei vier bis sechs Kindern pro Jahr zum Tod.

 

Zurzeit ist die Schluckimpfung gegen Rotaviren noch nicht in den Standard-Impfkalender der STIKO aufgenommen, ihre Kosten werden deshalb nur von wenigen Krankenkassen übernommen. Professor Dr. Berthold Koletzko: „Die Stiftung Kindergesundheit vertritt jedoch mit Überzeugung die Meinung, dass Eltern jede Möglichkeit nutzen sollten, eine Krankheit, das auch ihrem Kind drohen kann, durch eine gut wirksame Impfung zu verhindern".

 

 

Brauchen Kinder wirklich so viele Impfungen?

„Die Antwort der Stiftung Kindergesundheit lautet klar und eindeutig: Ja!“, bekräftigt Professor Berthold Koletzko. „Allerdings sind heute oft längere Gespräche nötig, um den Eltern den Sinn von Impfungen gegen Krankheiten zu erklären, die sie selbst kaum kennen oder die als angeblich harmlos gelten. Manche Eltern lehnen die Impfung aus ideologischen Gründen ab. Andere sind skeptisch, weil sie nicht ausreichend informiert sind. Das ist paradoxerweise eine Folge der Impfungen: Ihnen ist es schließlich zu verdanken, dass viele Schrecken früherer Kinderjahre heute bei uns praktisch unbekannt sind. Dass die Kindheit heute der ungefährlichste Zeitabschnitt des Lebens ist, verdanken unsere Kinder den Impfungen“.

 

 

Die neuen Impfstoffe sind besser verträglich

Impfstoffe sind Arzneimittel. Ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit wird streng überwacht und immer weiter verbessert. Um die Zahl der Injektionen gering zu halten, werden nach Möglichkeit Kombinationsimpfstoffe verwendet. Dazu Professor Koletzko: “Die Annahme vieler Eltern, dass die Mehrfachimpfungen das Immunsystem des Kindes besonders stark belasten, trifft nicht zu. Auch Kombinationen mit sechs oder sieben Impfstoffen sind verträglich und bieten einen guten Schutz. Die Vorteile sind weniger Impftermine, geringere Mengen von Begleitstoffen, damit seltener auftretende Impfreaktionen und eine geringere Gefahr einer möglichen Allergisierung“.

Wer 1960 geboren wurde, hat als Kind wahrscheinlich fünf Impfungen erhalten, Impfungen gegen Pocken, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten und Kinderlähmung. Diese fünf Impfungen erhielten als Antikörper 3.217 Komponenten. Im Jahr 2000 betrug die Zahl der benötigten Komponenten zur kompletten Immunisierung ganze 57. Zum Vergleich: In einer Kiwi-Frucht sind 30 neue Antigene enthalten.