Juni 2008

Stiftung Kindergesundheit: Gemeinsames Essen ist wichtig für Kinder!

Familientisch hält Leib und Seele zusammen!

Die Zahlen der aktuellen Kinder- und Jugendgesundheitsuntersuchung KiGGS offenbaren eine bedrohliche Entwicklung: 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen von drei bis 17 Jahren sind übergewichtig, 6,3 Prozent leiden regelrecht unter Fettsucht. Hochgerechnet auf Deutschland entspricht dies einer Zahl von ca. 1,9 Millionen übergewichtigen Kindern und Jugendlichen, davon ca. 800 000 Fettsüchtigen. Damit hat sich der Anteil dicker Kinder und Jugendlicher seit den Neunziger Jahren um 50 Prozent erhöht! Die Schuldigen sind schnell ausgemacht: zu viel Essen, zu wenig Bewegung. Auf eine weitere, bisher weniger beachtete Ursache der neuen Epidemie machte jetzt die Stiftung Kindergesundheit aufmerksam: auf die dramatischen Veränderungen des Essverhaltens und der Esskultur.

 

Gemeinsame Mahlzeiten finden heute in vielen Familien kaum noch statt, beklagt die in München beheimatete Stiftung. 83 Prozent der Deutschen halten zwar nach einer repräsentativen Erhebung das Essen mit der Familie für wichtig. Doch unter der Woche gelingt es nur 37 Prozent der Befragten, die Familienmitglieder zusammen an den Tisch zu bringen. Lediglich an Sonn- und Feiertagen essen 85 Prozent der deutschen Familien mehrmals täglich gemeinsam.

Ein weiteres Problem: Es kommen immer häufiger Fertigprodukte auf den Tisch, das Essen wird seltener selbst zubereitet. Gesunken ist auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Vorbereitung des Essens zu Hause. Jungen werden zudem in den Haushalt deutlich weniger miteinbezogen als Mädchen. Mit dem Verlust der Haushaltsfähigkeiten und Kochkenntnissen gehen aber grundlegende Kulturtechniken und damit auch wichtige Teile der Familienatmosphäre verloren.

 

Der Münchner Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Stoffwechsel-Experte des Dr. von Hauner’schen Kinderspitals der LMU München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit, sieht in diesen Veränderungen große Gefahren auch für die Gesundheit: „Die gemeinsamen Mahlzeiten der Familie werden zunehmend durch einsames Mampfen nach Bedarf abgelöst. Allein essende Kinder haben viel öfter Fertiggerichte und Fastfood mit ungünstiger Zusammensetzung auf dem Teller als Kinder, die gemeinsam mit ihren Eltern essen.

Viele Kinder konsumieren in der Schule, in der Freizeit und beim Fernsehen nur so nebenbei kalorienreiche Snacks. Der soziale Kontext, die kulturellen Traditionen und der geregelte Rhythmus von Mahlzeiten gehen zunehmend verloren, gleichzeitig wächst die Gefahr, dass mehr gegessen wird, als es einem gut tut“.

 

Essen "on the go" macht dick!

Ob man es Tischsitten nennt oder Esskultur: Das Ernährungsverhalten hat einen unmittelbaren Einfluss darauf, was und wie viel gegessen wird. Die traditionelle Form des Essens in Familien, mit drei Hauptmahlzeiten zu festen Zeiten, zu denen man sich am Tisch zusammensetzt, bewirkt auch eine gewisse Begrenzung der Nahrungsmenge. Wird stattdessen zu beliebigen Zeiten gegessen, bei jeder Gelegenheit, im Bus, auf der Straße oder nebenbei beim Fernsehen oder Lesen, dann gerät die Nahrungsaufnahme außer Kontrolle.

 

Es spricht vieles dafür, dass der Verlust der Tradition des Essverhaltens und die Hinwendung zum Gelegenheitsverzehr zu einer Zunahme der Kalorienaufnahme führen.

Professor Koletzko: „Wenn ich beim Bäcker, am Dönerstand, an einer Pommesbude oder am Schnellrestaurant vorbeigehe und mal eben etwas esse, dann nehme ich in der Summe wahrscheinlich mehr zu mir, als wenn ich dreimal am Tag die Hauptmahlzeiten und zwischendurch mal einen Apfel esse“.

Auch die Zahl der eingenommenen Mahlzeiten beeinflusst das Risiko zum Dickwerden. Professor Koletzko: „Nach unseren eigenen Untersuchungen tragen Kinder, die regelmäßig nur drei oder weniger Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen, ein doppelt so hohes Risiko für Übergewicht wie Kinder, die das Essen auf häufige kleinere Portionen verteilen (mindestens fünf Mahlzeiten am Tag)“.

 

Die USA - ein schlechtes Vorbild

In den USA hat sich der Anteil der Haushaltsausgaben für Lebensmittel, die für außer Haus zubereitete Mahlzeiten ausgegeben wurden, von 28 Prozent im Jahr 1993 bis heute fast verdoppelt. Der Anteil der Produkte, die man entweder im Schnellrestaurant einnimmt oder die man als Fertiggerichte, wie z. B. Tiefkühlpizza mit nach Hause nimmt, liegt mittlerweile bei 40 Prozent der Lebensmittelausgaben amerikanischer Haushalte. Gleichzeitig sind die Preise für gesunde Nahrungsmittel, vor allem für frisches Obst und Gemüse in den letzten beiden Jahren um 19,5 Prozent angestiegen.

Vorgefertigte Nahrungsmittel dagegen, die reichlich Kalorien enthalten, hatten ihren Preis gehalten oder sind sogar etwas billiger geworden. Amerikanische Ernährungsexperten befürchten, dass gesunde Ernährung für untere Einkommensschichten bald unerschwinglich werden könnte.

Auch in Deutschland reicht der Kinderzuschlag beim Arbeitslosengeld II nicht für eine gesunde Ernährungsweise. Der Gesetzgeber sieht für Kinder bis 14 Jahren nur 2,57 Euro pro Tag für Essen und Trinken – eine gesunde und ausgewogene Kinderernährung bleibt damit unbezahlbar.

 

Größere Portionen - ein gefährlicher Trend

Weitere Untersuchungen in den USA ergaben: Innerhalb von zwei Jahrzehnten nahmen die Portionsgrößen der Speisen zu Hause und außerhalb, außer bei Pizza, bei allen untersuchten Lebensmitteln (salzige Snacks, Nachtische, Limonade- und Colagetränke, Fruchtsäfte und Fruchtsaftgetränke, Pommes frites, Hamburger und mexikanische Gerichte) deutlich zu. Eine Portion Snacks hat heute 93 Kalorien mehr als vor 20 Jahren. Hamburger wuchsen um 97 Kalorien, Pommesportionen um 68 und Tacos um 133 Kalorien.

 

Das Verhängnisvolle dabei: Von größeren Portionen wird auch mehr gegessen. Vorschulkinder, die statt einer altersgerechten Portionsgröße eine doppelt so große Portion des Hauptgerichts vorgesetzt bekamen, haben davon auch eine um 25 Prozent größere Menge verdrückt. Professor Koletzko: „Die Beobachtungen zeigen, dass Kinder die Veränderungen der Portionsgröße überwiegend nicht merken.“ Das gelte auch für zu Hause: „Auch in unseren Supermärkten werden überwiegend Großpackungen angeboten. Wenn ich aber nicht die 75-Gramm-Packung Kartoffelchips kaufe, die es kaum noch gibt, sondern 300 Gramm Chips mit nach Hause nehme, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch diese Menge - und damit die vierfache Kaloriendosis - verputzt wird.“

Besonders vor dem Fernsehgerät ist die Gefahr groß, dass Kinder (und Erwachsene) unkontrolliert große Mengen an Kalorien zu sich nehmen durch kalorienhaltige Getränke, Süßigkeiten, Chips und Nüsse. „Beim Fernsehen sollte man gar nicht essen, sondern das Essen als bewusste Handlung gemeinsam am Tisch genießen. Außerdem sollten wir darauf achten, dass Kinder statt Kalorienbomben vermehrt Gemüse, Obst, mal eine Karotte, eine Tomate oder eine Gurke als Zwischenmahlzeiten zu sich nehmen“, empfiehlt Professor Koletzko.

 

Als Durstlöscher Wasser statt Limonade oder Fruchtsaft

Auf den Familientisch gehört aber nicht nur gesundes Essen, sondern auch ein gesundes Getränk, betont die Stiftung Kindergesundheit - und das ist Wasser! Sie verweist dazu auf die soeben veröffentlichte Stellungnahme der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Darin warnen die pädiatrischen Ernährungsexperten vor dem überhand nehmenden Konsum von Limonaden, Colagetränken und anderen zuckerhaltigen Erfrischungsgetränken.

Derartige Getränke sind nach internationalen Untersuchungen zweifelsfrei an der Entstehung des Übergewichts bei Kindern (und Erwachsenen) beteiligt. Kinder und Jugendliche sollten ihren Durst deshalb am besten mit schlichtem Wasser, ungezuckertem Tee oder mit einer stark verdünnten Saftschorle löschen. „Auch Fruchtsäfte enthalten übrigens viele Kalorien“, betont Professor Koletzko: „Eltern sollten deshalb lieber mit frischem Obst den Vitaminbedarf ihres Kindes decken“.

 

Was können Eltern tun?

Nicht predigen, sondern tun! Gepflegte Gewohnheiten bei Tisch  einfach selber praktizieren, soweit es Tagesablauf und Beruf zulassen. Immer nur Fertigprodukte und Fastfood verhindern die Chance, Kindern das genussvolle Essen behutsam beizubringen und sie dabei Familiengemeinsamkeit erleben zu lassen. Was und wie Kinder essen mögen, bestimmt die Umgebung, in der sie groß werden. Vater und Mutter sind die ersten Vorbilder, die die Essgewohnheiten ihres Kindes prägen. Ihr tägliches Verhalten kann für viele Jahrzehnte das Essverhalten beeinflussen.

 

Das geht weit über die Ernährung hinaus. Das gemeinsame Essen ist viel mehr als nur Nahrungsaufnahme, es ist auch Futter für die Seele, betont die Stiftung Kindergesundheit in ihrer aktuellen Stellungnahme. Eine der wichtigsten Funktionen der Familienmahlzeit ist, dass man miteinander redet. Wenn man miteinander isst, ohne dass der Fernseher läuft, erfährt man voneinander. Man beschäftigt sich mit den Kindern, man kann ihnen Zuwendung geben, man erlebt tatsächlich Familienleben. Beim Familientisch haben Kinder und Heranwachsende Gelegenheit, ihre Gedanken, ihre Erlebnisse auszusprechen, eine positive Rückkopplung zu bekommen, verstärkt zu werden, Orientierung zu erhalten.

 

Die Ärztin Dr. med. Irene Epple-Waigel, Schirmherrin der Stiftung Kindergesundheit und selbst Mutter eines Sohnes: „Kinder fühlen sich geborgen und sicher, wenn sie sich auf einen strukturierten Tagesablauf verlassen können. Dazu gehört das gemeinsame Essen im Kreis der Familie. Es fördert zum Beispiel die soziale Kompetenz der Kinder, denn sie lernen dabei zu teilen und darauf zu warten, bis jeder sich etwas auf den Teller genommen hat. So lernen Kinder ganz nebenbei Verhaltensregeln bei Tisch. Am gemeinsamen Tisch wird der Geschmack der Kinder entscheidend geprägt: Die Eltern können ihnen beibringen, gesundes Essen zu schätzen und zu genießen. Das gemeinsame Essen hält Leib und Seele zusammen“.