Dezember 2014

Gleiche Chancen für alle Kinder!


Symposium der Stiftung Kindergesundheit benennt die Mängel in der Umsetzung der UN-Charta für Kinderrechte und zeigt Wege zu ihrer Beseitigung

 

"Unser Grundgesetz kennt keine Kinder. Es schützt zwar seit 2002 auch Tiere und Natur, Kindern bleibt aber dieser besondere Schutz verwehrt. Das muss anders werden: Die 13 Millionen Kinder im Alter unter 18 Jahren in Deutschland tragen immerhin 16 Prozent der Bevölkerung bei, und 100 Prozent unserer Zukunft". Mit dieser Mahnung eröffnete der Münchner Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko eine Tagung des Freundeskreises der Stiftung Kindergesundheit im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München.

Die Tagung diente zum Austausch der aktuellsten Erkenntnisse aus den Bereichen Kinder- und Jugendlichenmedizin, Sozioökonomie und Gesundheitsforschung. Anlass war die vor 25 Jahren angenommene UN-Konvention über die Rechte der Kinder auf Gesundheit und Bildung.

Als erste Referentin stimmte Professor Dr. C. Katharina Spieß vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Teilnehmer des Symposiums auf das Tagungsthema ein. Die von Professor Spieß vorgestellten Studien zu den ökonomischen Aspekten von Bildung und Gesundheit zeigen alle in die gleiche Richtung: "Investitionen im Vorschulalter für die Bildung und Entwicklung der Kinder bringen die höchste Rendite für die Gesellschaft. Das gilt besonders für die Bildungsinvestitionen für Kinder aus benachteiligten, anregungsarmen Familien", so die Wirtschaftsforscherin. "Frühe Bildungsinvestitionen können dazu beitragen, alle Humanpotentiale zu nutzen. Die bessere Betreuung der Kinder hilft Familien- und Erwerbsarbeit besser zu vereinbaren und erhöht zudem die Bildungsgerechtigkeit".

Allerdings gebe es noch viele Defizite, bedauert Professor Katharina Spieß:

  • Deutschland investiert zu wenig in die frühen Bildungsangebote für Kinder. Hartz IV-Kinder haben in Ostdeutschland eine um 36 Prozentpunkte niedrigere Wahrscheinlichkeit, unter drei Jahren gefördert zu werden. Besonders schlecht stehen die Chancen, wenn beide Eltern einen Migrationshintergrund haben und wenn in der Familie zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird.
  • Viele Kindertagesstätten haben nur eine mittlere oder sogar unzureichende Qualität. Wenn die Kita über zu wenig Betreuer verfügt, wird auch die Gesundheit der Kinder negativ beeinflusst. In Kitas mit hohem Migrationsteil ist die pädagogische Qualität der Betreuung schlechter als in Kitas mit niedrigerem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund.
  • Es gibt zu starke regionale Unterschiede in der Inanspruchnahme von Tageseinrichtungen und Tagespflege von Kindern unter drei Jahren. 
  • Der falsche Einsatz finanzieller Mittel führt zu falschen Anreizen. Bildungsferne Familien schicken ihre Kinder wesentlich seltener in die Kitas. Das Gleiche gilt in einigen Regionen für Familien mit niedrigen Einkommen und für Mütter ohne Berufsausbildung.

Professor Katharina Spieß: "Das Betreuungsgeld konterkariert die Bemühungen um die frühe Förderung der Kinder: Mütter aus bildungsfernen Schichten bleiben eher zu Hause und die Kinder besuchen häufiger keine Kindertageseinrichtung. Da diese  Kinder dann grundsätzlich nicht von einer guten außerfamilialen Betreuung profitieren können, werden auch seine Bildungspotentiale nicht voll ausgeschöpft. Kurzum: Das Betreuungsgeld geht zu Lasten der Kinder und sollte deshalb unbedingt überprüft werden".


Armut macht Kinder krank
Um die Ungleichheit im Gesundheits- und Lebenserfolg von Kindern ging es im Vortrag von Privatdozentin Dr. Freia de Bock. Die Kinderärztin vom Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg stellte fest: In Deutschland leben 18,25 Prozent der Kinder in relativer Armut. Darunter versteht man ein Familieneinkommen unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung.

 

Kinder in schwieriger sozialer Lage haben aber häufiger Bewegungsmangel und Übergewicht, leiden unter Entwicklungsstörungen und frühkindlichen Regulationsstörungen, weisen häufiger Depressionen, ADHS, psychosomatische Beschwerden und Suchtprobleme auf und sind öfter durch Unfälle und von Karies betroffen. Somit erweist sich Armut als das größte Gesundheitsrisiko für Kinder in Deutschland.

Je länger ein Kind in relativer Armut verbringt, umso niedriger ist seine Lebenszufriedenheit im Alter von 17 Jahren. Die bisherigen Bemühungen, um die Situation der Kinder zu verbessern, haben leider noch nicht zum gewünschten Erfolg geführt.
PD Dr. De Bock: "Wir sind angetreten, um die Gesundheit der Kinder aus sozial benachteiligten Schichten zu verbessern. Dazu haben wir versucht, mehr Informationen und Broschüren zum gesunden Lebensstil zu verbreiten, mit Antirauchkampagnen aufzuklären, haben Spielplätze und grüne Flächen in benachteiligten Stadtteilen angelegt. Leider sehen wir, wenn überhaupt, nur kleine Effekte dieser Maßnahmen. Denn auch mit der Aufklärung und der Information erreichen wir vor allem die ressourcenreichen sozialen Schichten, und nicht die Gruppe, die Aufklärung und Information tatsächlich am nötigsten hätte".

 

Kinder brauchen stabile Lebenswelten
Auch PD Dr. Freia De Bock betrachtet die finanziellen Anreize des Staates eher als Fehlinvestitionen: "Das Kindergeld mit 41 Millionen pro Jahr ist eine teure Leistung des Sozialstaates, während für alle Schulen in Deutschland im Vergleich nur 55 Millionen aufgebracht werden. Es bringt damit keine Chancengleichheit, sondern begünstigt Familien mit einem Jahreseinkommen von über 60.000 Euro".

Die Public-Health-Expertin wünscht sich eine Änderung der Umgebungsfaktoren des Kindes: "Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder aus armen Verhältnissen weniger chronischen Stress erleben. Sozialpolitische Maßnahmen wie finanzielle Transferleistungen, zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, zeigen, dass die Armutsrate und die damit verbundenen negativen Erlebnisse für Kinder reduziert werden können. Diese scheinen jedoch in Deutschland nicht mehrheitsfähig zu sein". Nötig seien auch gute Beziehungen zu den Eltern, vor allem zu den Vätern, gute Beziehungen in Nachbarschaften, intensivere Beziehungen zwischen den Betreuern in den Kitas und den Kindern.
"Damit benachteiligte Kinder ihre Entwicklungsmöglichkeiten nutzen können, brauchen sie in ihren Lebenswelten verlässliche und stabile Beziehungen". Statt Kindergeld wäre somit eine strukturelle Verbesserung außerhäuslicher Kinderbetreuung mit Anpassung von Betreuungsschlüsseln an den Bedarf des Kindergartens (z.B. im Sinne von höherem bedarf in armen Stadtteilen)wichtig.

 


Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten die Teilnehmer die Ausführungen von Prof. Dr. Giovanni Maio. Der Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg beschäftigte sich mit den Auswirkungen der zunehmenden wirtschaftlichen Zwänge im Gesundheitssystem auf die individuelle Betreuung von Kindern und Jugendlichen. "Kindermedizin ist etwas Besonderes", so Professor Maio. "Der Kinder- und Jugendarzt darf sich nicht lediglich auf das Technische verlassen, sein Patient braucht den ganzen Blick. Die Säulen der Kindermedizin sind Gespräch und Vertrauen". Die wichtigsten Leistungen des Kinder- und Jugendarztes seien Begleiten, Geduld haben und sich persönlich einsetzen für das kranke Kind. Diese Leistungen kommen aber in der modernen Medizin nicht vor oder sie werden nicht honoriert.

 

Verlust des Vertrauens durch Ökonomisierung
Professor Maio beklagte das zunehmende Zweckmäßigkeitsdenken im Gesundheitssystem unserer Tage, das ausschließliche Streben nach Effizienz und Rentabilität, nach dem Erwirtschaften von Erlösen: "Die Medizin wird zu einem Ort, wo etwas hergestellt wird. Das Verstehen und Begleitung verlieren an Wert, nur das Produkt zählt. Der Patient wird nicht nach seiner Bedürftigkeit beurteilt, sondern nach dem Erlös, den seine Behandlung erbringt. So verspielt aber die Medizin ihr Vertrauen".

Gefragt seien Austauschbarkeit der Helfer, schnelle Entscheidungen, schnelles Durchschleusen der Patienten. Der Kontakt zu den Patienten wird minimiert. Das führt zu demotivierten Ärzten und zu einer Gefahr der inneren Emigration. Menschen, die in der Klinik arbeiten, sollten Freude daran haben. "Eine Medizin, die die Beziehungsqualität abwertet, wird auf die Dauer generell an Qualität verlieren. Beziehungsmedizin braucht Vertrauen und Atmosphäre, aber diese Atmosphäre wird mehr und mehr zerstört", so die Mahnung von Professor Maio.

 

Zur gleichen Beurteilung der Situation in der Kindermedizin kommt auch Professor Dr. Dr. Christoph Klein, Direktor des Dr. von Haunerschen Kinderspitals der Universität München. Seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention wurden zwar weltweit große Fortschritte im Interesse der Kinder erzielt, doch auch in Deutschland klaffe immer noch eine große Lücke zwischen den Forderungen der UN-Charta und ihrer Umsetzung: "Wir Kinderärzte sind Pioniere der Kinderrechtsbewegung und fühlen uns als Anwälte unserer Patienten. Doch unsere Arbeit wird durch die Ökonomisierungstendenzen der Medizin zusehends erschwert".
Das System der vor zehn Jahren eingeführten so genannten Fallpauschalen weise gerade in der Versorgung von Kindern und Heranwachsenden in den Universitätskliniken gravierende Mängel auf, weil es erbrachte Leistungen nicht ausreichend vergüte.

 

Unterfinanzierung trifft die Schwächsten
Professor Klein fand plastische Worte zur Beschreibung der paradoxen Situation: "Die Ärzte in einer Kinderklinik werden gedrängt, nicht mehr zu fragen: ‚Welchen Patienten können wir am besten helfen?’ sondern unter den heutigen Umständen zu fragen: ‚Welche Patienten können uns am besten helfen?’".

Der Direktor der Münchner Universitätskinderklinik hält folgende Aufgaben der Gesellschaft für dringend nötig:

  • Schutz von Würde und Rechte kranker Kinder;
  • Altersgerechte Information und Partizipation der Kinder;
  • Die Finanzierung einer patientenzentrierten Kindermedizin;
  • Die Sicherung der Weiterbildung von spezialisierten Kinder- und Jugendärzten;
  • Ausreichende Räume für Innovation, Forschung und Kreativität.


Die Stiftung Kindergesundheit spricht sich für eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz aus und fordert mit Nachdruck Korrekturen des Gesundheitssystems mit einer ernsthaften Berücksichtigung dieser Rechte. Professor Koletzko: "Nur wenn diese Rechte der Kinder im Grundgesetz verankert würden, könnten sie vor den höchsten Gerichten auch eingefordert werden". 

Fördern Sie die Stiftung Kindergesundheit mit Ihrer Spende!
Die Stiftung Kindergesundheit setzt sich durch Forschung und Praxisprojekte für die Vorbeugung von Kinderkrankheiten ein. Gemeinsam mit anerkannten Experten verbessern wir die Chancen aller Kinder, gesund aufzuwachsen und ihre Talente optimal zu entwickeln. 

Spendenkonto: HypoVereinsbank München
IBAN: DE41700202700052055520
SWIFT (BIC): HYVEDEMMXXX

Vielen Dank!